eingSCHENKt: Das Gute am Nebeneinandertun & lassen

Ich steige in den Aufzug. Jeder Mensch macht das einmal in 72 Stunden. Durchschnittlich. Ich bin nicht allein. Noch wer anderer fährt in den dritten Stock. Ich nicke. Der andere auch. Dann schauen wir aneinander vorbei. Ein unangenehmes Gefühl beschleicht mich. Soll ich etwas sagen? Ich sage nichts.

Im Fahrstuhl entsteht eine Öffentlichkeit, in der man anderen mit einem gewissen Grad an Desinteresse entgegentritt, ohne jedoch Missachtung zu signalisieren. Eine höfliche Nichtbeachtung ist das.

Soziologe Georg Simmel hat das vor hundert Jahren schon wahrgenommen: «Vor der Entwicklung der Omnibusse , der Eisenbahnen, der Tramway sind die Leute nicht in die Lage gekommen, lange Minuten oder gar Stunden sich gegenseitig ansehen zu müssen, ohne aneinander das Wort zu richten.» Ohne die Leistung der Bekanntschaftsvermeidung gibt’s keine Individualisierung. Ohne höfliche Nichtbeachtung gibt’s keine moderne Gesellschaft. Im Fahrstuhl entdeckt man das Gute am Nebeneinander.

Das falsche, verlogene Miteinander tut nicht gut. Sei es das «Volk», das zusammenstehen soll, seien es «die Gläubigen», die alle eins zu seien haben. Die Verwechslung von Gesellschaft mit Gemeinschaft erzeugt nämlich ganz schön viele Probleme. Während Gemeinschaften auf persönlichen Beziehungen, verbindender Gesinnung in Familie, Nachbarschaft und Verein beruhen, besteht Gesellschaft aus einem Kreis voneinander getrennter, anonymer Individuen, verbunden durch den Vertrag. Es ist keine Lösung, dass alle in einer Welle von Gemeinschaft verpflichtet werden, sich vorgetäuschten Traditionen zu unterwerfen, von denen sie sich gelöst haben oder die nie die ihren waren. Die vorgekünstelte und manipulierende Einheit von quasi-familiärer Gemeinschaft im nationalen Großsystem – die Zustimmung sichern will, indem sie Konflikte leugnet –, die Demokratie der verlogenen Freundschaft macht Demokratie nicht sichtbar und begreifbar. Sie ist aber auch deshalb problematisch, weil die Rückführung von Gesellschaft in Gemeinschaft äußerst repressive Folgen für den/die Bürger_in haben kann. Diesem paternalistischen Modell, das Gemeinsinn von oben verordnen will, würde ich unser Engagement entgegensetzen, das Menschen ermächtigt statt sich ihrer bemächtigt. Kein repressives Gemeinschafts-Pathos, das uns Zusammengehörigkeit verordnet, uns in Volksgemeinschaften beschwört, uns zu braven Untertanen erzieht.

Wir erreichen den dritten Stock. Im Aufzug entdeckt man das Gute am Nebeneinander. Aber nicht nur. Auch das Gegenteil, die Möglichkeit zu kommunizieren. Begegnungen im Fahrstuhl dauern schlicht zu lange, um die höfliche Nichtbeachtung aufrechterhalten zu können. Es ist ein ziemlicher Aufwand, sich in einer Begegnung nicht zu begegnen. Die Verlegenheit, die ich spüre, ist ein Störenfried im Nebeneinander, ein Hinweis auf unsere Beziehungsfähigkeit. Auf die Möglichkeit, den Blick zu heben.