Großbritannien verlässt die EU. Der britische Premier Cameron hat sich bisher gegen die sozialen Teile des Lissabon-Vertrags gewehrt, das Armutsreduzierungsziel der EU torpediert, Finanzregulierungen verhindert, die Kommerzialisierung sozialer Dienste wie Pflege oder Bildung vorangetrieben.
Wird jetzt alles anders? Wohl nicht von selbst. Der bisherige Kurs der europäischen Regierungschefs hatte den Abbau sozialstaatlicher Leistungen und Infrastruktur zur Folge und brachte die Löhne unter Druck. Die verabschiedeten europäischen Rechtsakte zementierten die finanzpolitischen Ungleichgewichte zu Lasten der sozialen Stabilität. Sie stehen damit auch im Widerspruch zum offiziellen EU-Ziel der Armutsbekämpfung, wie es im Zuge der Europa-2020-Strategie von allen Staatschefs formuliert wurde.
Die Hoheit über die Sozialschutzsysteme obliegt den Mitgliedsländern, wiewohl mit dem Lissabon-Vertrag die soziale Dimension der Europäischen Union gestärkt und präzisiert wurde. Mit diesem Vertrag wurde etwa auch die europäische Charta der Grundrechte rechtskräftig. Gerade die letzten Krisenjahre machen deutlich, dass die zunehmende wirtschaftliche Integration nicht mehr ohne eine verstärkte soziale Integration auskommen kann, auch im Hinblick auf die Akzeptanz der EU bei ihren Bürgerinnen und Bürgern.
Die zukünftige Linie der Sozial- und Wirtschaftspolitik muss sich an einem breiteren volkswirtschaftlichen Verständnis orientieren. Indikatoren waren und sind ein mächtiges Steuerungsinstrument europäischer Politiken. So wie bisher kann das nicht weitergehen. Zur besseren Zielsteuerung braucht es starke soziale Indikatoren (Scoreboards) zu Arbeitslosigkeit, Qualität der Jobs und zur sozialen Entwicklung, aber auch zur Struktur von Steuern (Taxes). Entscheidungen zum Stabilitätspakt sollten einem Stresstest im Hinblick auf die Erreichung sozialer Indikatoren sowie die Einhaltung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unterzogen werden. Werden diese verletzt, müssen die vorgeschlagenen Maßnahmen zurückgenommen oder neue entwickelt werden. Weiters braucht es einen institutionalisierten Dialog mit dem sozialen und gemeinnützigen Sektor, den Betroffeneninitiativen und der Civil Society. Besonders fehlt ein solcher Dialog im europäischen Wirtschafts- und Sozialkomitee. Begonnen wurde bereits, über eine europäische Arbeitslosenversicherung nachzudenken. Soziale europäische Standards müssten dann in Korridoren definiert werden, damit es zu keinen Verschlechterungen innerhalb Europas kommt und die Entwicklung der sozialen Systeme bedarfsgerecht erfolgt. Die zurzeit einzigen direkten sozialpolitischen Instrumente der Europäischen Union – die Strukturfonds – müssen wesentlich stärker für Armutsbekämpfung genutzt und in den Ausbau sozialer Dienste investiert werden. Europa ist mehr.
Lippenbekenntnisse für ein soziales und demokratischeres Europa reichen nicht aus. Ein soziales Europa ist möglich und steht nicht im Widerspruch zu wirtschaftlichem Erfolg. Europa wird sozial sein, oder es wird nicht mehr sein.