Sie wolle, sagt die Regierung im Vorfeld der österreichischen EU-Präsidentschaft, dass das «Große» auf europäischer Ebene behandelt wird, das «Kleine» aber soll auf nationalem Level sein. Beim aus ihrer Sicht «Großen» nennt sie Polizei und Kontrolle. Als «klein» stuft sie soziale Initiativen ein: also den Kampf gegen Arbeitslosigkeit und gegen Armut, das Engagement für Pflege, Kinder, Kranke und für Bildung. Gemeinsame europäische Initiativen für Soziales sind offensichtlich «kleine» Fragen. So werden wir nicht weiterkommen. Europa wird sozial sein, oder es wird nicht mehr sein.Eine aktuelle Studie des Ökonomen Gabriel Zucman zeigt uns, was passiert, wenn wir die großen Aufgaben mit den kleinen verwechseln. Konzerngewinne landen zu
40 % in Steueroasen. Im Jahr 2015, auf das sich die Untersuchung bezieht, haben Multis wie Google, Amazon, Nike und Co insgesamt 570 Milliarden Euro an Gewinnen in Steueroasen verlagert. Im Falle Österreichs sind das 3,6 Milliarden Euro. Der Allgemeinheit entgehen somit 900 Millionen Euro an Steuereinnahmen im Jahr. Das entspricht den Aufwendungen für die Mindestsicherung, oder einem Chancenindex für benachteiligte Schulen, oder Investitionen in die fehlenden Therapieplätze für Kindergesundheit oder den notwendigen Ausbau von Pflegehilfen. In Wirklichkeit müssen wir soziale Fragen in Europa groß machen. Und die Schlupflöcher, sich aus der gemeinsamen Verantwortung zu stehlen, klein.
Erstens sollten Sozialschutz und soziale Rechte mit den Grundfreiheiten des Binnenmarkts gleichrangig behandelt werden. Ein Vogel fliegt nicht mit einem Flügel. Zweitens sind gemeinsame Investitionen im Bildungs- und Pflegebereich zu tätigen. Schon 2012 hat der damalige Kommissar, Laszlo Andor, ein Social Investment Package gefordert, um die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise zu mildern. Zu Recht – denn die Beschäftigung im Sozialbereich wächst in den letzten Jahren unaufhörlich, und trägt so zum wirtschaftlichen Wohlstand in Europa bei. Soziale Dienste haben einen unvergleichbaren sozialen Mehrwert für die Gesellschaft. Kinderbetreuung, Pflege für ältere Menschen, Integration und Sprachkurse, oder auch Weiter- und Fortbildung sind nicht nur wichtig für die Personen, die es betrifft. Sie schaffen auch Jobs in strukturschwachen Regionen, und spielen Angehörige in ihren Betreuungstätigkeiten frei. Drittens müssen Entscheidungen in Europa einen «sozialen Stresstest» bestehen sowie der Einhaltung der europäischen Charta der Grundrechte unterzogen werden. Werden diese verletzt, müssten die vorgeschlagenen Maßnahmen zurückgenommen, abgefedert oder andere entwickelt werden. Und viertens: Wir sollten voneinander lernen. Jedes Land kann etwas gut. Dänemark weiß mit seinen «family health nurses» Soziales (Care) und Gesundheit (Cure) zu verbinden, Holland arbeitet mit einem Chancenindex um benachteiligte Schulstandorte zu stärken, Deutschland hat mit den «Frühen Hilfen» ein Angebot für Kleinkinder aufgebaut, Österreich hat mit dem sozialen Wohnbau und der dualen Ausbildung europaweit «good practice» vorzuweisen.
Zur Umsetzung all dieser Schritte könnten wir einen Konvent für ein soziales Europa einberufen. Dieser Konvent hat die Aufgabe, Vorschläge zu entwickeln, wie in der EU Sozialschutz und soziale Rechte gestaltet, gesichert und zukunftsfähig weiterentwickelt werden können.
Wir können das Kleine groß machen. Damit der Vogel seine Flügel ausbreitet und fliegt.