Was passiert, wenn nationalistische und autoritäre Politiken an die Macht kommen, kann in Ungarn oder in Polen gerade live beobachtet werden. Viktor Orbán betreibt einen sichtbaren Kampf gegen das europäische «Ausland», gegen bedrohliche «innere Feinde» und gegen die kritischen Teile der Zivilgesellschaft. Einen Feldzug, der unsichtbar ist, führt er jedoch gegen Alte, Kranke und Arme.So hat er das Budget im Gesundheitswesen massiv gekürzt und die Allgemeine Pflegehilfe aufgekündigt. Sie betrifft ungefähr 10.000 Familien, in denen ein Familienmitglied nicht arbeiten kann, weil es den alten, dementen oder unheilbar an Krebs erkrankten oder psychisch kranken Angehörigen rund um die Uhr betreuen muss. Dazu kommt die Abschaffung einer Reihe von Unterstützungen. Es gab einen Zuschuss zu den Wohnkosten, der bisher einer halben Million ungarischer Familien zuteilwurde. Diese Beihilfe gebührte Familien mit niedrigem Einkommen für die Kosten von Strom, Gas, Wasser und Abwasser, Müllabfuhr, Miete oder für die Tilgung von Wohnungskrediten. Mit dieser Hilfe konnte der Abstieg in die Obdachlosigkeit bei manchen vermieden werden. Weiters änderte Orbán die Verfassung, sodass wohnungslose Menschen auf der Straße strafrechtlich verfolgt werden können. Gleichzeitig wurden die Reichsten mit einem einheitlichen Steuersatz begünstigt. «Dadurch wurde das Einkommen von 90 % aller Ungarn auf einen Schlag verkleinert, das der bessergestellten zehn Prozent der Bevölkerung hingegen erhöht», analysiert der Soziologe Andor Mihály.
Kritisierte man Orbán für diesen sozialen Kahlschlag, würde er sich sofort zum Opfer «ausländischer Kreise» und «innerer Vaterlandsverräter» machen. So funktioniert der Opferkult der Mächtigen. Das Böse kommt von außen, das ist die Grundfigur des ungarischen Nationalismus. Da seien «verborgene, gesichtslose Mächte» am Werk, und es fehlt auch jener Begriff nicht, der in Osteuropa die Juden und Jüdinnen meint: «kosmopolitisch». Es ist ein Merkmal autoritärer Persönlichkeiten, dass sie Kritik als Beleidigung werten. Beleidigt sein ist überhaupt der liebste Seinszustand autoritärer Nationalstaaten. Ob Orbán in Ungarn, Kaczyński in Polen, Erdoğan in der Türkei: Kritik heißt immer «Beleidigung des Volkes». Da mischt sich der Opfernarzissmus mit dem Größenwahn.
In Polen machte die Regierung als erstes den Verfassungsgerichtshof durch ein neues Gesetz handlungsunfähig. Das ist ein Anschlag auf Rechtsstaatlichkeit und eine bewusste Schwächung eines demokratischen Kontrollorgans. Was sie alle als zweites gerne machen: das Präsidentenamt zusammenlegen und autoritär ausbauen. Das kann auch Österreich drohen. Die Kompetenzen des Bundespräsidenten sind so gewichtig, dass er die Republik «jederzeit mit vier aufeinanderfolgenden Entschließungen in eine ganz andere Lage bringen kann», warnt der ehemalige Vorsitzende des Verwaltungsgerichtshofs, Clemens Jabloner. «Dazu hätte er bloß mit der ersten Entschließung die gesamte Bundesregierung zu entlassen, mit der zweiten eine ihm genehme Person als Bundeskanzler zu bestellen, mit der dritten auf Vorschlag dieses Bundeskanzlers die übrigen Bundesminister und mit der vierten auf Vorschlag dieser neuen Bundesregierung die Auflösung des Nationalrats zu verfügen.»