Die Auseinandersetzung ist heute durch die Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten hysterischer denn je. Der «Notstand» wird ausgerufen, die Internetforen gehen schier über vor Hetze und Hass, ein autoritärer Nationalismus rückt ein soziales und demokratisches Europa in die Ferne, die politische Debatte findet sich an der Identitätsfront wieder.
Ein Widerspruch fällt besonders auf: Während Menschenrechte im Kontext von Asyl zunehmend ausgehebelt werden und soziale Grundrechte bei den ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung unter Druck kommen, wird in fast jeder Diskussion, in beinahe jeder Rede sowie in jedem zweiten Zeitungsartikel auf «unsere Werte» gepocht. Gleichzeitig werden ethische und moralische Haltungen diskreditiert, aber «Werte» eingefordert und hochgehalten. Eine irritierende Entwicklung: Je mehr über Werte gesprochen wird, desto weniger spielen Menschenrechte eine Rolle.
Die Fluchtbewegung von außen nach Europa wird innen zur sozialen Desintegration genützt und missbraucht. Das Land Niederösterreich erließ ein Gesetz zur Streichung der Mindestsicherung bei Flüchtlingen, versteckte aber darin die Kürzung des Wohnens bei Menschen mit Behinderungen. «Flüchtlinge» wird gesagt, aber gestrichen wird dann beim Wohnen für alle, auch für alle Österreicher_innen. So funktioniert das. Oder die sogenannte Deckelung bei Familien. Asyl wird gerufen, dann aber die Mindestsicherung für alle Kinder gestrichen. Es wird daran gearbeitet, die Republik unattraktiver zu machen, nicht bloß für «Flüchtlinge», sondern auch für Kinder, Menschen mit Behinderung oder chronisch Kranke. Was ist von einer Wertedebatte zu halten, die soziale Grundrechte missachtet und Armut erhöht? Auch viele der von der Troika aufgezwungenen Maßnahmen in Griechenland oder Spanien stehen in klarem Konflikt mit dem Europäischen Recht, insbesondere der Europäischen Sozialcharta. Dazu gehört die verschlechterte medizinische Versorgung samt höherer Kindersterblichkeit, das Schließen von Schulen oder der starke Rückbau des Lohntarifsystems.
Wird über Werte gesprochen, um über Menschenechte zu schweigen? Der Begriff der Werte kommt nicht aus der Ethik, sondern aus der Ökonomie. Der Wert gibt das Gewicht an, das wir einem Gegenstand zuerkennen, wie wir ihn bewerten, mit wie viel Geld wir ihn aufwiegen. Das übliche Maß für Werte ist der Preis. «Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde», formulierte Immanuel Kant. Und Philosoph Liessmann ergänzt: «Die Suche nach Werten, die Frage, wo sich Werte bilden, die Behauptung, es müsse eine Werterziehung geben, die Interpretation der Menschenrechte als Werte, die ideologische Rede von Wertgemeinschaften: All das deutet an, dass man an der Würde des Menschen kein Interesse mehr hat, sondern im Begriff ist, seine Präferenzen und die zugrundeliegenden zweckorientierten Wertmaßstäbe durchzusetzen.» Der Wertebegriff macht die Würde des Menschen zu einem Spekulationsobjekt.
Tipp:
Wert und Würde. www.hanserbox.de