Der kleine Heinz stand draußen. Er hatte nicht gewagt zu klopfen, doch hörte sie sein Husten und öffnete die Tür. Hast Du ein Bilderbuch?, war seine schüchterne Frage. «Er berichtete stockend, dass er ein solches im Schaufenster einer Buchhandlung gesehen habe und dass er gerne wüsste, wie es innen aussähe.
Frau Silberbauer kramte ein altes Bilderbuch, bekritzelt, mit ausgerissenen Ecken, aus einer Kiste hervor. Sie sah und hörte das Entzücken des Kindes und staunte über seine vielen Fragen.» So schildert die Sozialarbeiterin Rosa Dworschak eine Szene in ihrer Erzählung «Dorfgeschichten in der Großstadt». Das Dorf, von dem die Rede ist, liegt in Ottakring, die Stadt ist Wien, die Verwalterin der Siedlung heißt Silberbauer, wir schreiben das Jahr 1930. Heinz machte von da an seine Aufgaben bei Frau Silberbauer und kam voran in seinen ersten Schreibversuchen und Zeichnungen.
In der Geschichte vom Buben aus der Barackensiedlung, der das erste Mal in seinem Leben ein Buch in Händen hält, blitzt bereits etwas von Rosa Dworschaks besonderer Haltung auf. Die Erzählungen Dworschaks sind getragen von dem, was ihrem Verständnis nach für psychoanalytische Sozialarbeit grundlegend ist: dem lebendigen Interesse für die anderen, der Fähigkeit zu verstehen, auf andere und deren Lebensauffassung einzugehen und sie nicht zu verurteilen. Dworschak lernte den Psychoanalytiker August Aichhorn 1917 am Jugendamt kennen: «Dann bin ich nach Pottendorf gekommen, und zur selben Zeit hat Aichhorn schon die Vorbereitungen gehabt für Hollabrunn. Er hat mich dann schon näher gekannt und hat gesagt, er muss dieses Barackenlager übernehmen. Es war damals, 1918, noch für Flüchtlinge, ich soll aber mitfahren und ihm dabei helfen, Medikamente zu sortieren, und anderes. Unterwegs hat er mir Vorträge gehalten und die Schriften von Sigmund Freud vorgelesen. Ich habe gefunden: ein furchtbarer Blödsinn.»
Das sollte sich ändern. Dworschak drang immer tiefer in die Psychoanalyse ein und verband sie mit ihrer konkreten sozialen Arbeit. Hier entwickelte sich ein für die Zeit neuer pädagogischer Blick auf das Kind. «Ich lasse mich weder auf die Besprechung der vorgebrachten Beschuldigung ein, noch fülle ich Drucksorten aus», bemerkte August Aichhorn, «sondern veranlasse das Kind, von zu Hause und von der Schule zu erzählen: gebe ihm die Möglichkeit zu kritisieren, seine Wut zu entladen.» Er nutzte die Übertragung nicht nur zur Deutung unbewusster Regungen, sondern zu Schaffung starker affektiver Erlebnisse. Die Beratungsstellen erzielten erstaunliche Ergebnisse mit diesem therapeutischen Zugang. Aichhorn betonte, dass «nacherziehende heilende Wirkung» nur möglich ist, wenn das Kind als erfahrenes, leidendes, deutendes und interpretierendes Subjekt ernst genommen und mit Neugierde und Wohlwollen angehört wird. Das war das Gegenprogramm zum üblichen sozialmoralischen Schuldspruch in Pädagogik und Sozialarbeit.
«Alles, was an Ketten erinnerte – mochten es auch nur dünne Fäden sein, waren den Bewohnern der Siedlung verhasst», berichtet Frau Silberbauer in den Dorfgeschichten. Ob etwas gut oder schlecht, hilfreich oder nicht ist, beurteilen sie danach, ob es ein «weniger abhängiges Leben» ermöglicht. Das ist eine einfache, aber umso bedeutendere Erkenntnis für die soziale Arbeit und alle Angebote, die sie setzt. Eine Bewohnerin der Barackensiedlung sagt es so: «Sie sind eine sonderbare Frau, mit Ihnen könnte man möglicherweise reden, ohne sich verstellen zu müssen.»
Tipp:
Eva Maria Bachinger & Martin Schenk: Wert und Würde. Ein Zwischenruf, Hanserbox