Die Kampagne rollt. Gegen Mindestsicherungsbezieher_innen. Vorurteile, Falschinformationen bis zur Hetze dominieren die Debatte. Hier etwas zur geistigen Selbstverteidigung in Existenzfragen:
Die Zahl der Menschen, die zur Sicherung ihrer Existenz auf Mindestsicherung zurückgreifen müssen, ist seit der Jahrtausendwende und angeheizt durch die Finanz- und Wirtschaftskrise massiv gestiegen. Und besonders auch bei Menschen, die es sich nie gedacht hätten, in die Mindestsicherung (MS) zu rutschen. Die allerwenigsten Bezieher_innen leben ausschließlich von MS. Die große Mehrheit braucht sie, um nicht existenzsichernde Leistungen der Arbeitslosenversicherung aufzustocken. Bei den Bezieher_innen ist auch an Frauen zu denken, die im Zuge einer Scheidung auf Unterhalt verzichten und deshalb auch keinen Anspruch auf Witwenpension haben. Oder an Menschen mit erheblicher Behinderung, die in Privathaushalten leben. Oder an Gering-Verdienende mit mehrköpfiger Familie, für die in Summe der Lohn nicht reicht. Oder an pflegende Angehörige, die von der Pflege so in Anspruch genommen sind, dass sie daneben nicht erwerbstätig sein können. Ein Viertel in der Mindestsicherung sind minderjährige Kinder.
Eines ist auch gewiss: Trotz der steigenden Bezieher_innen-Zahlen sind jene, die Mindestsicherung trotz Notlage nicht in Anspruch nehmen, in der Überzahl. Diese «Non-Take-Up»-Quote ist am Land noch wesentlich höher als in den Städten. Die großen Probleme in der Mindestsicherung lauten also nicht soziale Hängematte sondern Nichtinanspruchnahme und Sozialbürokratie.
«Schön und gut – aber das kostet ja alles Unsummen. Wie sollen wir uns das leisten?» Für Geldleistungen und Krankenhilfe haben die Länder in Summe 708 Mio. Euro ausgegeben (brutto, ohne Berücksichtigung von Rückflüssen durch Kostenersätze und Rückforderungen). Das mag auf den ersten Blick viel erscheinen – relativiert sich aber angesichts der Summe der Sozialausgaben in Österreich. Gemessen an den Gesamt-Sozialausgaben entsprachen die Ausgaben für die Mindestsicherung einem Anteil von 0,7 Prozent. Das wird den Sozialstaat nicht zusammenbrechen lassen.
«Wer wirklich will, findet auch eine Arbeit», sagen manche. Doch: Beschäftigung und Erwerbslosigkeit finden sich parallel auf einem Rekord-Hoch. Noch nie waren so viele Menschen in Österreich in Beschäftigung. Seit 2004 hat die Zahl der Erwerbstätigen fast jährlich zugenommen. Aber: Die Zahl der gearbeiteten Stunden ist im selben Zeitraum fast gleich geblieben (+0,6%). Wie das geht? Die Erwerbstätigen arbeiten pro Woche weniger als früher; und die neu geschaffenen Jobs waren in starkem Maße Teilzeit-Jobs. Die Erfahrung der Erwerbslosigkeit haben 922.387 Personen gemacht. Den in Summe im Jahresdurchschnitt 394.674 erwerbslos gemeldeten bzw. in Schulung befindlichen Menschen standen 26.320 beim AMS gemeldete, offene Stellen gegenüber. Das bedeutet: Auf jede gemeldete freie Stelle kamen rein rechnerisch 15 Bewerber_innen.
«Rohe Bürgerlichkeit», so formuliert es Wilhelm Heitmeyer, Professor an der Uni Bielefeld, «ergibt sich aus dem Zusammenspiel von glatter Stilfassade, vornehm rabiater Rhetorik sowie autoritär aggressiver Einstellungen und Haltungen. Sie findet ihren Ausdruck in einem Jargon der Verachtung gegenüber schwachen Gruppen und der rigorosen Verteidigung bzw. Einforderung eigener Etabliertenvorrechte im Duktus der Überlegenheit.» Die Kampagnen gegen die Mindestsicherung richten sich – verteilungspolitisch gesehen – gegen die untersten 3 Prozent der Bevölkerung.