eingSCHENKt: Till Eulenspiegel und mehrtun & lassen

«Ich bin immer noch hier, wo es regnet und manchmal die Sonne scheint.» Maria, eine arbeitslose Textilfachverkäuferin, sitzt auf der Parkbank vor der Kirche. Ihr Leben läuft rückwärts, an allen Träumen vorbei: an Otto im Gemüsefach, an dem Nacktschwimmer mit dem Fischherz, an Walter, dem Elvis-Imitator. Ich stecke den Roman von Anna Weidenholzer in meine Tasche, lese unterwegs ein paar Seiten, blättere im Beisl weiter, hole ihn in der Straßenbahn hervor: «Der Winter tut den Fischen gut.»Meine Bücher liegen an verschiedenen Plätzen. Das eine in der Tasche, das andere befindet sich oben auf dem Schreibtisch. Alles ist «Kultur». Du bist Kultur, alles, was du sagst, ist Kultur, alles, was dich ausmacht, ist Kultur, alles, was du tust, erklärt Kultur. Sonst hast du keine Gründe. Der Psychoanalytiker und Arzt Sama Maani erinnert uns in seiner Aufsatzsammlung «Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht» an die Verstrickungen von Identität, Kultur und dem Unbewussten.

Welches Konzept von Gesellschaft steckt hinter der Inflation des Begriffs «Kultur» in der aktuellen Debatte? Was ist mit der Leitkultur, mit dem Abendland, mit der Rede von «unseren Leuten»? Sie sind Teil einer «Rekonstruktion», zitiert Maani die Philosophin Isolde Charim. Eine solche Rekonstruktion braucht es erst nach einem Verlust. Gerade weil sich die nationale Gemeinschaft, die nationale Bindung verändert hat, bedarf es überhaupt einer Rekonstruktion. Gerade weil die vollen nationalen, religiösen, kulturellen Identitäten nicht mehr greifen, kommt es zu einer massiven Gegenbewegung. Eine solche findet sich bei den Kulturalisten auf beiden Seiten: bei jenen der Mehrheits- und bei jenen der Minderheitsgesellschaft. Kann es sein, dass der Identitäre «an jenem Ort der Vergangenheit, von dem er die Heilung der Gebrechen seiner Gegenwart erhofft, nicht vielmehr ihren Ursachen begegnet?», fragt Sama Maani. In der islamistischen Regression beispielsweise, bei der sich die von Mangel gezeichnete Gegenwart, in der Hoffnung auf Erlösung, nach einer «glorreichen Vergangenheit» zurücksehnt. Wenn sich aber der «glorreiche» Sehnsuchtsort ebenfalls als Ort des Mangels herausstellt, unerlöst, tot? Jener Sehnsuchtsort wäre dann der Ort eines nicht eingestandenen Zweifels, lebendig nur als verzweifelte Wut über die eigene Ohnmacht. Und einer nicht gestellten Frage an einen ohnmächtigen Gott: Warum hast du uns verlassen?

Ein anderes Buch wandert derzeit durch die Wohnung, liegt einmal am Küchentisch, im Badezimmer, am Nächtkästchen, dann zwischen den Spielsachen der Kinder. Hans Georg Zilians «Unglück im Glück», streitbare Essays gegen fortschrittlichen Gesinnungskitsch und halbierte Freiheiten. Till Eulenspiegel würde er gerne öfter sehen, mehr Ironie, mehr Widersprüche und mehr erfahren von Leuten wie Maria, der arbeitslosen Textilfachverkäuferin.