«Wir sind keine Bittsteller, wir wollen Respekt!» Das war der zentrale Satz, den Erwerbsarbeitslose, Mitarbeiter_innen von Straßenzeitungen, psychisch Erkrankte, Menschen mit Behinderungen, Alleinerzieherinnen und Migrant_innen bei einem Treffen unter dem Titel «Sichtbar Werden» in Wien formulierten.«Sichtbar werden sollen unsere Alltagserfahrungen. Sichtbar werden sollen unser Können und unsere Stärken. Sichtbar werden sollen unsere Forderungen und Wünsche zur Verbesserung der Lebenssituation.»
Wer der Perspektive, die andere bestimmen, ausgeliefert ist, ist fremd. Der Blickwinkel entscheidet. Wer bleibt unsichtbar, wer bekommt die Deutungsmacht? Medien zum Beispiel erzählen Geschichten. Es ist nicht das Ereignis selbst, das Nachrichtenwert hat, sondern es ist die Geschichte, die sich damit erzählen lässt. Jeder Fernsehbericht ist ein kleines Dramolett; mit einem Rahmen, einer Handlung und bestimmten Rollen. Zwar ist der Text den Rolleninhaber_innen freigestellt, das Auswählen der Rollenträger_innen, die Auswahl von Textausschnitten und ihr Montieren in die Handlung bleibt Aufgabe der Redaktion. Im Bild manifestiert sich deren Blick, diese eine Perspektive, die den Rahmen der Erzählung setzt. Der Rahmen wird durch eine Entscheidung gebildet: Wer besitzt Subjektstatus? Wer Subjekt ist, darf sprechen und besitzt die Deutungsmacht. So entstehen Handlungsanleitungen.
Es ist wohl kein Zufall, dass «Sichtbar Werden» zum Motto des Treffens gewählt wurde. Der Demokratietheoretiker Pierre Rosanvallon argumentiert, dass «nicht wahrgenommen» werden «ausgeschlossen sein» bedeutet. Deshalb sei heute die Sehnsucht nach einer gerechten Gesellschaft verbunden mit dem Wunsch nach Anerkennung. Und genau hier müsse eine Erneuerung der Demokratie ansetzen: bei jenen, deren Leben im Dunkeln bleibt, die nicht repräsentiert werden, die nicht sichtbar sind. Die Identität ist heute der Moment, an dem die soziale Frage ausgetragen wird. Die Angst sitzt im Spalt zwischen «Was habe ich?» und «Wer bin ich?».
Rund um die Frage von Anerkennung und Respekt wurden in der Geschichte die wichtigsten Auseinandersetzungen geführt. Durch die seit den Fünfzigerjahren erkämpfte Teilhabe an Wohlstand, Bildung und sozialer Sicherung wurde eine große Mehrheit der Bevölkerung in diese soziale Mitte der Respektabilität integriert. Eben diese sozialrechtliche Anerkennung steht heute unter Beschuss. Und den Arbeitsalltag prägen mehr Abhängigkeit und weniger Anerkennung. Anerkennungsverhältnisse spielen eine wichtige Rolle.
Wer das Wort ergreift, hat etwas zu erzählen. Wer jemand ist oder war, können wir nur erfahren, wenn wir die Geschichte hören, deren Held_in er oder sie ist. Das Wort zu ergreifen, heißt nicht für-sprechen, sondern selbst sprechen. Wenn Ausgeschlossene die eigene Lebenswelt sichtbar machen, schaffen sie einen Ort, von dem aus sie sprechen können. Der Vorhang öffnet sich zu einer Bühne, auf der die eigene Geschichte eine eigene Deutung – und zugleich Bedeutung – erfährt. Das Unspektakuläre des eigenen Lebens bekommt eine Bühne und wird besonders. Die das Wort ergreifen, können zur Sprache bringen, wer sie sind – und wer sie sein können.