Seitdem Oma Stephanie zuhause bleiben muss und isoliert ist, erledige ich ihre Einkäufe und bringe ihr die Briefe.
TEXT UND FOTOS: JONATHAN WEIDENBRUCH
Oma Stephanie ist 93 Jahre alt und wohnt alleine in ihrer kleinen Wohnung in einer Seitengasse der Landstraße im 3. Bezirk. Sie ist schon fast 40 Jahre in Pension. Ihren Alltag bewältigt sie aber jeden Tag aufs Neue von allein. Fremde Hilfe möchte sie nicht. Verständlich – denn Oma Stephanie war ihr ganzes Leben nicht auf welche angewiesen und möchte es jetzt auch nicht sein. Oma Stephanie lässt sich von niemandem etwas sagen. Früher war sie Buchhalterin in einer großen Firma und ist sogar mal Autorennen auf der Höhenstraße gefahren. Das muss in den frühen 50ern gewesen sein. Oma Stephanie sagt, dass sie eine tolle Autofahrerin gewesen sei und leidenschaftlich gern gefahren sei. Sie hat sich auch damals von niemanden etwas vorschreiben lassen.
Aber jetzt erlebt Oma Stephanie, dass ihr etwas vorgeschrieben wird. Etwas, an das sie sich konsequent halten muss. Sie muss jetzt Zuhause bleiben und sich isolieren. Sie darf nicht mehr die Wohnung verlassen und muss auf alle Kontakte verzichten. Der Grund ist das Corona-Virus, das seit Anfang März die ganze Stadt fest im Griff hat. Oma Stephanie gehört mit ihrem Bluthochdruck und einem nicht mehr ganz fitten Immunsystem zur Hochrisikogruppe. Wenn Oma Stephanie das Virus bekommt, kann sie daran sterben.
Es gehörte zum Alltag der 93-Jährigen, auf «ihrem» Markt einzukaufen. Wenn Oma Stephanie «mein» Markt sagt, spricht sie vom Rochusmarkt, der nur ein paar Gehminuten von ihrem Zuhause entfernt ist. Am Rochusmarkt bekommt sie alles, was sie braucht. Apotheke, Bauernladen, Bäcker, Metzger, Drogerie, Trafik und Zeitungsverkäufer. Alles auf einem Fleck. Routiniert machte sie ihre Einkaufsrunde über den Markt. Hier kennt sie schon fast alle Verkäufer_innen. Die meisten wissen, was sie braucht – schließlich ist sie ja Stammkundin. Oft führt sie ihre Runde auch ein paar Gassen weiter vom Markt zum Post-Briefkasten. Oma Stephanie hält engen Kontakt zu ihren Freund_innen über Postkarten und Briefe. Zumindest die, die noch leben.
Kurze Einkaufsliste.
Einmal die Woche diktiert sie den Einkaufszettel übers Telefon. Samstag ist Einkaufstag. Freilich ist der Tag nicht zufällig gewählt, samstags erscheint die aktuelle, Oma Stephanies Lieblingsillustrierte. Früher habe ich mich immer gefragt, ob sich das Geschäft mit diesen Illustrierten überhaupt lohnt – ich war mir sicher, dass es ein Relikt aus alter Zeit ist, und kannte niemanden, der sie liest. Was ich nicht wusste: Ich kannte schon immer jemanden, die sie liest, meine eigene Großmutter. Der Einkaufszettel von Oma Stephanie ist nicht lang. Ein bisschen Gemüse, Orangen für den Vitamin-C-Haushalt und ein bisschen frischen Aufschnitt und Käse. Manchmal ein Fertiggericht, am liebsten Knödel mit Schwammerln oder das XXL-Kartoffelgulasch. Oma Stephanie meint, mit Fertiggerichten spare sie sich Zeit und Arbeit und gut schmecken tun sie auch.
Das Wichtigste ist wohl das Brot.
Es muss immer ein ganzer Laib sein, auf keinen Fall geschnitten. Oma Stephanie hat eine Brotschneidemaschine, mit der sie den Laib selber schneidet. So bleibt das Brot länger frisch. Der Einkauf passt meist in den alten geflochtenen Einkaufskorb, den ich nach dem Einkauf vor ihrer Türe abstelle, damit ich ja kein Risiko eingehe, Oma Stephanie durch direkten Kontakt anzustecken. Dann wird geklopft, zweimal kurz und einmal lang. Das ist Oma Stephanies Klopfcode. Wenn nicht so geklopft wird, wird die Türe gar nicht erst aufgemacht. Es könnte jemand Fremder mit bösen Absichten vor der Eingangstüre stehen. Einen Zwanzig-Euro-Schein für das Eingekaufte hält sie immer bereit in ihren Händen. Manchmal ist auch ein Fünf-Euro-Schein dabei. «Der ist für dich, für die Unannehmlichkeiten.» Sie sagt immer, sie möchte niemandem zur Last fallen und beschränkt sich daher auf das Nötigste. Es ist ihr unangenehm, nicht für sich selbst sorgen zu können, war sie doch immer so glücklich darüber, eigenständig zu sein.
Ist alles in Ordnung? Die Menschen in den Läden, die Oma Stephanie sonst regelmäßig besucht hat, haben bemerkt, dass die alte Dame nicht mehr vorbeischaut. Letztens erst, hat der Frisör Oma Stephanie angerufen und gefragt, wann er ihr denn einen Termin geben könne. Auch ihr Berater für das Hörgerät hat bereits durchgeklingelt, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Oma Stephanie wird also schon vermisst.
Ich wusste nie so richtig, womit Oma Stephanie die Stunden füllt. Ich wusste nie, was sie allein zuhause am liebsten isst und was sie auf ihrer Einkaufsrunde alles besorgt. Jetzt habe ich das Gefühl, ihren Tagesablauf und Speiseplan genau zu kennen. Genau zu wissen, welche Magazine sie liest und was sie mit ihrer Zeit anstellt. So oder so ähnlich wie Oma Stephanie geht es während der Corona-Isolation sicher vielen alten Menschen, denke ich mir. Sie alle kämpfen mit Einsamkeit, Isolation und mit der weggenommenen Freiheit.
Zehn Hampelmänner.
Oma Stephanie sagt, die Isolation tue ihr gar nicht gut. Abgesehen vom psychischen Stress, nur zuhause zu sein und fast niemanden mehr zu sehen, sagt sie, dass sie spüre, dass die Muskeln aufgrund mangelnder Bewegung abbauen würden. Letztens, sagte sie, habe sie angefangen, jeden Morgen nach dem Aufstehen zehn Hampelmänner zu machen. Verblüffend, wo man doch denken würde, mit 93 Jahren wäre die Bordsteinkante schon ein fast unüberwindbares Hindernis. Man merkt: Langsam aber sicher möchte Oma Stephanie wieder raus. Sie möchte wieder selber einkaufen gehen und ihre Runde über den Markt drehen.