Einstürzende ZirkusbautenArtistin

Artistin Ariane Oechsner und Historikerin Johanna Prantz vom in Wien ansässigen Circus-Trainingszentrum TRAP untersuchen mit ihrem Projekt memory, wie es um Zirkusartist_innen im Nationalsozialismus gestanden und was aus ihren Festbauten geworden ist.

Wie sind Sie auf die Idee zum Projekt memory gekommen?

Ariane Oechsner: Wir haben darüber geredet, dass man etwas Größeres in Wien machen sollte über den Zirkus, eine geschichtliche Aufarbeitung, und waren uns sehr schnell darüber einig, dass die Zeit des Nationalsozialismus dabei besonders interessant ist.

Wie sind Sie vorgegangen, um das Wissen zu erarbeiten? Hat es hilfreiche Archive oder Museen gegeben?

Johanna Prantz: Ich bin Kulturhistorikerin und langsam in das Thema reingewachsen. Durch die SHIFT-Förderzusage haben wir dann konkretisiert, dass es um Österreich und vor allem Wien gehen soll. Ich habe viel in der Universitätsbibliothek, in der Stadtbücherei und im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes gearbeitet. Ich war auch in Kontakt mit dem Circus- und Clownmuseum Wien (mehr über dieses Museum) und dem Zirkusarchiv Winkler in Berlin. Außerdem arbeite ich schon länger mit Forgotten Cosmopolitans, einer Forschungsgruppe aus Helsinki, die Biogra­fien über Zirkusartist_innen zu Zeiten des Nationalsozialismus erstellt, zusammen.

Ist das ein gut aufgearbeitetes Themenfeld?

JP: Das ist ein komplett neues Forschungsfeld, wo man oft erst Grundlagenforschung betreiben muss, und die gestaltet sich oft langwierig. Die Quellen sind rar und schwer zu finden, aber es gibt ein paar Expert_innen, die sehr gerne helfen.
Das heißt, Sie haben alles aus verschiedenen Quellen zusammengetragen, und die Ergebnisse werden nun gemeinsam präsentiert?
AO: Genau, bzw. wir tragen immer noch zusammen, weil es mit Corona nicht so einfach war, Forschungsreisen zu unternehmen oder Menschen zu erreichen, die einen durch Archive begleiten. Deswegen forschen wir immer noch, obwohl wir schon in der ganz konkreten Umsetzung stecken, die dann ab 22. August zu sehen ist.
Das Kernstück unserer Präsentation ist eine Ausstellung, die aus zwei Teilen besteht: Einer existiert bereits, der ist von einer deutschen Projektgruppe namens CiNS (Circus im Nationalsozialismus) und wird bei uns in der Halle aufgebaut; und wir gestalten selber den österreichischen Teil, der Johannas Recherche wiedergibt.
Dazu gibt’s einen Streifzug durch den 1. und 2. Bezirk, zu den Orten, wo früher die Zirkusgebäude standen oder die Varietés verankert waren. Drei zeitgenössische Künstlerinnen, die sich mit individuellen Biografien von Menschen aus der damaligen Zeit auseinandersetzen, machen dort unter meiner künstlerischen Leitung Performances und Interventionen, die auf den Biografien beruhen. Es wird viele Überraschungsmomente geben, und wir interagieren auch damit, wie die Stadt damals war und wie sie heute ist.

Ist alles angemeldet oder eher im Guerilla-Style?

AO: Das ist alles hochoffiziell, weil von SHIFT gefördert, was aber nicht heißt, dass wir die Einhaltung nicht sehr weit auslegen. Der Zirkus war ja schon immer gut darin, Regeln für sich selbst zu deuten.

Ist das Überraschungsmoment dabei sehr wichtig, oder können Sie sagen, wo der Streifzug anfängt?

JP: Das Überraschungsmoment zählt auf jeden Fall, aber wir können schon sagen, dass wir am Praterstern anfangen. Neben den uns heutzutage bekannten Zeltzirkussen gab es seit dem 19. Jahrhundert auch feste Zirkusgebäude. In der Forschung können 22 davon in Wien nachgewiesen werden, aber es gab wahrscheinlich noch viel mehr. Die Gebäude wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Der Zirkus war damals sehr präsent in der Stadt, und der Prater war der Brennpunkt. Das macht ihn zum perfekten Platz, um unseren Streifzug zu beginnen.

Von den Zirkusfestbauten ist keine Spur mehr übrig?

JP: Nein. Heute ist dort, wo der Zirkus Zentral war, eine Tankstelle; wo der Zirkus Busch war, ein U-Bahn-Aufgang; und wo der Zirkus Renz war, ein Wohnhaus. Es gibt nur noch ein Mosaik vom Zirkus Renz, bei der Zirkusgasse 44, aber sonst ist alles verschwunden.
AO: Es gab in den 1980er-Jahren einmal die Idee von einem Architekturstudenten der Uni Wien, den Circus 80 als Kuppelbau auf der Zirkuswiese zu eröffnen, das war seine Diplomarbeit, aber das ist leider nie Wirklichkeit geworden. Sein Plan wäre gewesen, die Glorie der damaligen Zirkusstadt Wien zurückzuholen.
Wien hatte ja nicht nur viele Zirkusse, sondern auch zahlreiche Varietés, die sehr stark miteinander verbunden waren. Es gab durchaus Artist_innen, die beides bespielt haben. Wir haben also auch zu Varietés und Cabarets recherchiert, die waren damals sehr politisch. Da gibt’s sehr spannende Figuren, Menschen, die den Mund aufgemacht haben, die sich getraut haben, öffentlich auf der Bühne zu warnen, anzukreiden.

Wer ist da konkret mit einer starken Position bei Ihnen hängengeblieben?

JP: Fritz Grünbaum etwa, der aufgetreten ist u. a. im Cabaret Hölle und im Simpl, bis er 1941 im KZ Dachau umgebracht wurde. Eine andere Künstlerin ist Therese Zauser, die kam ursprünglich aus Feldkirch, ist dann u. a. in Wien aufgetreten. Die war Jongleurin und Tänzerin, auch in Varietés, und ist schlussendlich wegen Dienstverweigerung ins KZ Ravensbrück gekommen: Sie wollte nicht in der Munitionsfabrik arbeiten und hat den «Endsieg» angezweifelt.
AO: Wir haben uns darauf konzentriert, widerständige oder verfolgte Künstler_innen zu finden. Deren Lebensgeschichten sind oft nicht besonders gut dokumentiert, weil sie einfach von der Bildfläche verschwunden sind, aber uns ist aufgefallen, dass wir in Österreich vor allem Dokumente von Unterstützer_innen gefunden haben. Fotos etwa von Zirkusdirektoren, die den Nationalsozialisten Geld überreichen; Fotos von Zirkusvorstellungen, wo eine Hitlerbüste im Hintergrund steht; wo riesige Hakenkreuzfahnen prangen. Also von den Zirkuskünstler_innen nicht-jüdischer Herkunft dürften viele sehr brav die Propagandamaschine unterstützt haben.

Kann man das irgendwie zusammenfassen, welchen Zweck Zirkusse hatten und wie sie instrumentalisiert worden sind: vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg?

JP: Ich probiere, ein sehr komplexes Thema zu vereinfachen: Das Interessante am Zirkus war, dass er vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts die größte Event- und Entertainmentbranche war, die es überhaupt gegeben hat.
AO: Das war das Hollywood von damals, die Zirkusartist_innen waren Stars!
JP: Genau. Und die Zirkusse, die wir jetzt kennen, die kleinen Zelte – das ist nur ein kleines Bruchstück von dem, was es damals gegeben hat. Die rundreisenden Zeltzirkusse waren riesig, mit nicht nur einer, sondern drei Manegen nebeneinander, wo überall gleichzeitig gespielt wurde. Man kann sagen, ganze Städte waren da unterwegs und haben ihre Vorstellungen für bis zu 10.000 Leute gebracht. Ein Riesenspektakel.
Und das Besondere dabei war, dass jede Gesellschaftsschicht angesprochen wurde: Es gab dort die Noblen, die Arbeiterklasse, die Mittelschicht – jede_r war im Zirkus, dadurch war das für die Nationalsozialisten noch interessanter. Wenn man sich vorstellt, dass ein Clown in der Manege steht und 10.000 Menschen auf einmal beeinflussen kann, stattet ihn das mit einer ziemlichen Macht aus. Deswegen war das eine extrem gute Propagandamöglichkeit. Das haben sie in den 1920er-Jahren übrigens schon in Russland festgestellt und in Folge wurde dort der Zirkus verstaatlicht – die Nationalsozialisten haben das dann auch übernommen.
Das Problem, das sie dabei hatten, war allerdings, dass die meisten damals etablierten Zirkusfamilien jüdischer Herkunft oder Teil von Minderheiten waren – deswegen wurden sie arisiert, und da sind ganze Zirkusfamilien ausgerottet worden. Eine der berühmtesten alten Zirkusdynastien in diesem Zusammenhang ist die jüdische Familie Blumenfeld. Die gab es über 100 Jahre, und die hat auch in verschiedene andere Zirkusfamilien hineingeheiratet. Von denen haben schlussendlich nur ganz wenige Familienmitglieder überlebt.
Daneben waren auch Bombardements und Futtermangel im Krieg ein großes Problem, und später, durch das Aufkommen von Radio, Kino, Fernsehen, konnte der Zirkus nie wieder so aufleben wie zuvor. Die Glanzzeit war vorbei. Erst in den 1970er- und 1980er-Jahren ist der zeitgenössische Zirkus wieder aufgekommen.
AO: Ich bin Zirkusartistin, Fußjongleurin, und kann deswegen aus eigener Erfahrung sagen: Der ist in Österreich noch nicht etabliert. Wenn ich Leuten sage, dass ich Artistin bin, fragen sie mich: ‹Ja, aber was machst du wirklich?› Und wenn ich versuche, ihnen zu erklären, dass ich im Ausland an einer Zirkusschule studiert habe, dass ich einen Master habe im Zirkus, dass ich dann Post-Graduate-Ausbildungen noch und nöcher gemacht habe und dass ich, seit ich drei bin, dafür trainiere, als Artistin zu leben – dass es gar nicht möglich wäre, da noch etwas anderes nebendran zu machen – dann stößt das bei uns nach wie vor auf Unverständnis. Ich trainiere jeden Tag ab sechs in der Früh gleich einmal vier Stunden lang. Das ist ein Beruf.

Ist der zeitgenössische Zirkus in anderen Ländern besser etabliert als in Österreich?

AO: Ja, in Italien, Frankreich, Belgien, in den Niederlanden ist das schon sehr stark – aber in Deutschland und Österreich wächst das Verständnis für zeitgenössischen Zirkus als eigene Kunstform erst gerade langsam heran. Aber Zirkus ist wieder in. Langsam auch hier.

Circus Memory

Im Industriegebiet in Simmering, zwischen Schrotthändlern und Naturwildnis, hat eine Gruppe couragierter Menschen – viele davon zirkusaffin – ein Gebiet samt 500 Quadratmeterhalle erstanden: auf kreative Art, ohne Kredit. Nun wird die gesamte Anlage sukzessive in Eigenregie renoviert: Utopie ist harte Arbeit. Die ehemalige Industriehalle ist einerseits Hauptquartier vom Circus-Trainingszentrum TRAP, andererseits wird sie an Vereine und Gruppen aus der freien und zeitgenössischen Zirkusszene zum Training vermietet. Sechs Menschen wohnen auf dem weitläufigen Gelände, viel mehr Künstler_innen kommen tagsüber und gehen nachts wieder. In diesem Biotop ist die Idee zu memory gewachsen. Das Projekt wird von SHIFT (ein Programm der Stadt Wien zur Förderung innovativer Kunst und Kultur) gefördert und präsentiert seine Forschungsergebnisse in einer Ausstellung in der TRAP-Halle sowie bei Stadtspaziergängen um den Prater mit zahlreichen Interventionen der drei Artistinnen Maja Karolina Franke, Nina Dafert und Maggie Riegler – an ausgewählten Terminen vom 22. 8. bis zum 19. 9. Detaillierte Infos unter: www.circusmemory.wien