Empathie ist der Klebstoff der Menschheittun & lassen

Im Gespräch: Alexander Hagner, Architekt

Mindestens fünf Prozent seiner Arbeitsleistung sollte jedes Architekturbüro einer Sache widmen, die der Gemeinschaft guttut, findet Alexander Hagner. Mit dem Architekten von Sozialprojekten wie VinziRast Mittendrin und dem VinziDorf Wien haben Cigdem Cosgun und Feyzan Araz gesprochen.

Bevor Sie Architekt wurden, wurden Sie Tischler.

Als ich die Matura hinter mir hatte, wusste ich zwar schon, dass ich in die Architektur will, aber ich hatte vorerst genug von Theorie – und wollte dringend was mit den Händen machen. Übrigens eine Ambivalenz, die mir bis heute geblieben ist: Wenn ich von der Theorie zu viel hab, dann muss ich tun, und wenn ich vom Tun zu viel hab, muss ich wieder denken. Also dachte ich, am besten mache ich eine Handwerkslehre, denn sollte ich später als Architekt mal Pläne für Handwerker zeichnen, wäre es sicher gut, selber mal ein Handwerker gewesen zu sein. Nach dem Lehrabschluss in Deutschland habe ich die Aufnahmeprüfung auf die Universität für angewandte Kunst in Wien gemacht – das hat wider Erwarten beim ersten Mal geklappt. Freitags habe ich erfahren, ich kann montags mit dem Studium beginnen, und seither bin ich plus minus hier hängengeblieben.

Sie haben die Notschlafstelle VinziRast mitgegründet, mit dem Memobil ein Möbelstück für Demenzkranke realisiert und VinziRast Mittendrin geplant, ein Gebäude für das Zusammenwohnen von wohnungslosen Menschen und Studierenden. Wie kamen Sie dazu?

Ich war das erste Mal im realen Leben mit jemandem konfrontiert, der kein Dach über dem Kopf hatte, als ich nach Wien gekommen bin. Ich kam von einer ländlichen Gemeinde in Baden-Württemberg – dort gab es das nicht. Das hat mich wirklich betroffen gemacht, jemanden sitzen zu sehen, von dem ich wusste, der hat keine Ahnung, wo er heute die Nacht verbringt, und es hat womöglich minus fünf Grad. Ich konnte nicht umhin, mir um den Menschen Sorgen zu machen.
Ich denke, von dem, was wir alle haben, ob das nun Geld oder Wissen ist, ob es Werkzeuge oder Fähigkeiten sind, müssen wir einen Teil zur Verfügung stellen. Anders geht menschliches Zusammenleben nicht. Das ist für mich eine humanitäre Grundregel: Die, die haben, stellen denen, die nicht haben, etwas zur Verfügung. Und als durch das Studium für mich Fähigkeiten erwachsen sind, die mit Hausbauen zu tun haben, und es offensichtlich Leute gibt, die keine Häuser haben, habe ich mich direkt angesprochen gefühlt.
Als ich später im Standard über das Vorhaben von Pfarrer Pucher gelesen habe, in Wien ein Vinzidorf zu realisieren, wie es das in Graz schon gab, hat mich das sofort dazu bewogen, ihm mitzuteilen, dass ich Architektur studiert habe – ob er so jemanden brauchen kann. Er meinte, er braucht alle, und schon war ich dabei, und ich hab’s nicht wieder verlassen. Weil ich gemerkt habe: Das ist ein Feld, wo meine Werkzeuge noch schärfer, noch wirksamer sind als im Bauen für Frau Maier und Herrn Schmidt. Wenn wir da ein bisschen schlechter oder besser sind, ändert sich das Leben von Frau Maier und Herrn Schmidt nicht gravierend; aber wenn wir dort, wo jemand gar keinen Platz hat, an dem er wohnen darf, eine Veränderung schaffen, dann ist das ein Wechsel von einer existenziellen Bedrohung zu einem Neuanfang.

Was ist VinziRast?

VinziRast ist der Name der ersten Einrichtung der Vinzenzgemeinschaft St. Stephan. Die wurde eigentlich gegründet, um ein Vinzidorf zu machen. Nachdem wir aber über lange Zeit den Fuß nicht auf den Boden gekriegt haben und es stattdessen die Möglichkeit gab, im 12. Bezirk ein Haus zu sehr günstigen Bedingungen zu erwerben, haben wir gesagt: Gut, der Winter steht ins Haus, dann machen wir mal ein Notquartier. Das basiert auf einer ehrenamtlichen Struktur und ist von abends bis morgens geöffnet, die Menschen können duschen und essen und bekommen ein Bett. Man kann Hunde mitbringen und als Paar übernachten, und man kann leichten Alkohol trinken; denn wenn jemand alkoholkrank ist, kann ich nicht sagen: So, du bist jetzt für eine Nacht gesund, das verlang ich von dir.
Als Nächstes haben wir eine WG für ehemals alkoholabhängige Wohnungslose geplant, mit der Idee, dass jemand, der vom Entzug zurückkommt, vielleicht in der Gemeinschaft länger abstinent bleiben kann. In der Zeit, in der die Flüchtlingsunterbringung für viele nicht gewährleistet war, kam VinziRast HOME dazu, weil die Unterscheidung «obdachlos» und «geflüchtet» oft nicht sinnvoll erschien. Und dann gibt’s natürlich VinziRast Mittendrin (nachzulesen im AUGUSTIN-Archiv, Nr. 331/Oktober 2012, Anm.) und jetzt auch das VinziDorf Wien, das wie ein Pensionistenheim für obdachlose Menschen funktioniert und ihnen im letzten Abschnitt ihres Lebens einen Ort in Wien bietet, an dem sie bleiben können.

Arbeiten Sie ehrenamtlich?

Bei jedem der Projekte ist ein sehr großer Anteil geschenkter Arbeit dabei. Wir schauen, dass wir uns damit nicht gefährden, und sagen uns, den Ausgleich zum vollen Honorar bekommen wir über das Feedback.

Ist es schwierig, Menschen zu finden, die Sie in Ihrem Tun unterstützen?

Im Gegenteil! Mach ein Projekt, das schön und interessant ist, wo du selber mit Spaß dabei bist, und du findest in Österreich wahnsinnig viele Menschen, die förmlich darauf warten, dass sie ein Feld finden, in dem sie sozial tätig sein können.
Hat der Mensch ein Recht auf Wohnen? Und was ist, wenn er kein Geld hat?
Mit dem Wohnen als Menschenrecht ist es ein bisschen kompliziert. In der UN-Menschenrechtscharta steht es zwar drin, aber wird nicht direkt als Menschenrecht verstanden. Nationale Gesetzgebungen haben dazu verschiedene Formulierungen – meistens schützen sie das Wohnen, gehen dabei aber davon aus, dass man eh schon wohnt. Dass ich mir aber, wenn ich keine Wohnung habe, das Recht zu wohnen vor Gericht erstreiten kann, ist nirgendwo der Fall. Was natürlich eine Katastrophe ist.
Die Zahl der Menschen, die sich Wohnen nicht leisten können, nimmt zu. Es sind mittlerweile nicht mehr nur Menschen, die ganz aus dem System rausfallen, sondern auch solche, die im System sind, vielleicht Arbeit und ein funktionierendes soziales Umfeld haben, die zunehmend in Armut zu geraten drohen; und gleichzeitig sind die Kosten fürs Wohnen im Steigen begriffen. Das Problem wird also eher größer als kleiner.

Was braucht eine Gesellschaft, um zusammenzuleben?

Sie braucht Empathie. Das ist für mich der Klebstoff im menschlichen Miteinandersein. Und ohne einander geht es nicht. Am Land ist die Anonymität nicht so groß, da wird Empathie noch eher gelebt – das heißt, auch wenn er jetzt Hilfsarbeiter geworden ist und sie Direktorin einer Bank, wenn die zusammen in der Volkschule waren, ist da noch ein Gefühl füreinander. Aber in der Stadt braucht es aktive Bemühungen, dass unterschiedlichste Gruppen von Menschen Platz angeboten wird, wo sie miteinander in Kontakt kommen. Wenn wir nur noch mit unseresgleichen zu tun haben, verlieren wir jeglichen Kontakt zu Menschen, denen es anders geht, und damit auch das Verantwortungsgefühl füreinander.

Wie wünschen Sie sich die Zukunft?

Ich wünsch mir die Zukunft grundsätzlich auf zwei standfesten Beinen, die in der Humanität verwurzelt sind. Wir mögen die unterschiedlichsten Dinge am Schirm haben, mögen unterschiedlich aussehen, aber irgendwie haben wir alle was miteinander zu tun. Heißt ja nicht, dass ich es lieben muss, oder befürworten, was der oder die andere ist oder macht, aber ich möchte, dass wir den Kontakt zueinander behalten, weil alles andere, hat die Geschichte gezeigt, endet in Mord und Totschlag.

Sollten alle Architekt_innen an sozialen Projekten teilnehmen?

Ich habe das schon oft gesagt: Das Wettbewerbssystem in der Architektur ist nicht nur ein schlechtes, sondern auch eines mit fatalen Folgen, weil es unheimlich viele Ressourcen bindet. Wir haben einmal zusammengerechnet, was das weltweit pro Jahr für einen Aderlass an geistiger, entwerferischer, kreativer Kapazität darstellt. Das ist unverantwortlich. Stell dir vor, es gibt einen Wettbewerb und keiner macht mit! Ich glaube, dass wir dann wieder offener wären für das, was wir können: nämlich Probleme in unserem Umfeld identifizieren. Das müssen keine sozialen Probleme sein, es kann auch eine städtebauliche Situation sein, die uncool und verbesserungswürdig ist. Wer, wenn nicht wir, die diese Ausbildung genossen haben, können durch eine Stadt oder durchs Land gehen und sagen: Hey, da wär das gut, da fehlt das, da schläft jemand im Freien und so weiter … Wenigstens fünf Prozent seiner Leistung könnte ein Büro doch Themen widmen, die die Kommune stärkt. Victor Papanek fordert in Design for the Real World, dass jeder zehn Prozent seiner Arbeitsleistung in etwas hineinsteckt, was der Gesellschaft hilft. Ich bin da mit meiner Forderung eh noch zahm. 

Das Gespräch wurde am 10. September in der Sendung Spaceuriosity (Sandra Häuplik-Meusburger und Verena Holzgethan) auf Radio Orange 94.0 gesendet.

Alexander Hagner ist Teil des Architekturbüros gaupenraub und seit 2016 Professor für soziales Bauen an der Architekturfakultät der FH Kärnten.
www.architektur.se

Wohnen prekär – Diskussion mit Alexander Hagner,
Initiative Sommerpaket u.a., 10. Oktober, 19 Uhr
Arbeiterheim Favoriten, 20., Jagdgasse 1b
www.urbanize.at