Endstation Sehnsuchtvorstadt

Birgit Wittstock über die Asphalt-Cowboys vom Hauptbahnhof

«Ich will einen Jungen, der kleine, ungewaschene Stinkefüße hat», liest Ionel in holprigem Deutsch vor. Er sieht fragend zu Claudiu, der sich vor Lachen nach Luft ringend den Bauch hält. «Ce vrea, ma?», fragt Ionel auf Rumänisch in die Runde. «Was will der, Oida?»

Er hat nicht ein Wort der SMS verstanden, die er Claudiu und den anderen beiden Burschen vorgelesen hat. Claudiu, der ein paar Brocken Deutsch spricht, macht das Date für seinen kleinen Bruder klar und erklärt ihm, dass tags darauf ein «Bulangiu», ein «Schwuler», auf ihn warten wird. Ein Fußfetischist, der auf stinkende Füße steht.

Die vier hocken nebeneinander auf einer Bank im Schweizergarten, einem Park im dritten Wiener Gemeindebezirk, unweit jener Großbaustelle, wo gerade das Prestigeprojekt der Stadt, der künftige Hauptbahnhof, aus dem Boden gestampft wird.

Sie spotten über Ionels Fußfetischisten, lassen eine Zigarette kreisen. Ionels Blick ruht indes auf dem dunklen Grund des Teiches, der sich zu ihren Füßen erstreckt und auf dem ein paar Enten ihre Kreise ziehen. Er gibt sich Mühe, gute Miene zu machen, aber der Ekel steht ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Ionel ist noch keine 18, eben erst nach Wien gekommen und neu im Geschäft.

«Bist du ein Mann oder eine Pussy? Das ist leicht verdientes Geld! Du hältst dem Typen deine dreckigen Füße hin, und er leckt sie dir sauber – fertig!», sagt einer der Burschen. Er, Viorel, ist schon lange im Business. Die fünf Jahre am Straßenstrich haben seine einst knabenhaften Gesichtszüge in die eines Arbeiters verwandelt; sie sind derb und verlebt. Mit seinem gebückten Rücken und den hängenden Schultern wirkt er, als hätte er sein bisheriges Leben auf dem Acker geschuftet.

Viorel ist ein Nomade. Unaufhörlich pendelt er zwischen Wien, Berlin und seinem eigentlichen Zuhause, einer winzigen Roma-Siedlung im Umland der rumänischen Hauptstadt Bukarest. Dort hat er auch seine Frau mit den gemeinsamen drei Kindern zurückgelassen. Davon, wie Viorel das Geld verdient, von dem er die Schulden der Familie bezahlt, ahnt zu Hause niemand etwas. «Combinatii» lautet das Zauberwort: Beziehungen.

Claudiu pflegt besonders gute Beziehungen. Vor knapp zwei Jahren, mit 18, hat er sich auf den Weg gemacht, «nach Europa», wie er sagt. Seine erste Station: Wien. Die Stadt ist mittlerweile zu einer Art Heimat für ihn geworden. An sein einstiges Zuhause kann sich Claudiu kaum noch erinnern. Er war ein kleiner Junge, als er von dort weglief: die Mutter selbst noch ein Teenager, der Vater ein Trinker, Spieler und Vagabund. Sie seien zu viele gewesen, in dem winzigen Schuppen, zu viele, als dass sie alle hätten satt werden können, erzählt er.

Claudiu zog auf seinen Betteltouren immer größere Kreise. Bis es ihn eines Tages nach Bukarest verschlug, wo er fortan abwechselnd auf der Straße und bei Freiern lebte. Wie alt er damals war, weiß er nicht mehr genau: «Zehn vielleicht, oder elf?»

Der Schwulenstrich ist für ihn längst Alltag. Die ?oseaua Kiseleff, der Bukarester Straßenstrich, war seine Schule: «Ich habe mit lauter Einsern maturiert», sagt Claudiu und grinst. Er ist sehr erfolgreich, dabei steht er, wie fast alle seiner Kollegen, eigentlich auf Frauen. Claudiu ist ein schöner Junge: große, samtige Augen, volle Lippen, nicht ein Barthaar, das den kindlichen Ausdruck trübt, und ein Körper, den das Leben stark und geschmeidig gemacht hat, nicht das Fitnesscenter. Die Freier stünden Schlange bei ihm, heißt es.

An diesem Vormittag sind im Schweizergarten lediglich ein paar Mütter, die mit ihren Kindern spielen, zu sehen und einige ältere Herren, die Zeitung lesend oder Tauben fütternd auf den Bänken sitzen oder ihre Runden im Park drehen. Um zu erkennen, wie das Spiel läuft, muss man schon sehr genau hinsehen: Nur dann fallen einem die intensiven Blicke auf, die die alten Herren Claudiu und seinen Freunden zuwerfen.

Auf dem Strich gibt es keine Sprachbarrieren


Um ins Geschäft zu kommen, geht man gemeinsam ein Stück. Manche Freier tauschen sich ungeniert lauthals über die körperlichen Vorzüge der Burschen aus. Die quittieren die Fleischbeschau mit derben Beschimpfungen, denen sie die Melodie süßer Liebesschwüre geben. Meist ist man sich schnell einig – auf dem Strich gibt es keine Sprachbarrieren.

Die Wiener Polizei beobachtet die Szene im Schweizergarten seit langem. Dass dort auch Minderjährige anschaffen, könne man nicht verhindern, sagt ein Polizeisprecher. Wien ist nicht die einzige Stadt mit diesem Problem. Die Straßen vieler europäischer Großstädte sind seit dem EU-Beitritt Rumäniens 2007 Arbeitsplatz junger Rumänen und Roma. Beziffern lässt sich das Ausmaß allerdings nicht, denn die tatsächliche Anzahl der jungen Stricher ist unbekannt. «Wir können lediglich Anzeigen protokollieren, doch die verraten wenig über die Realität.»

Eine Realität, die ständig wechselt: «Als ich hier angekommen bin, waren die Preise noch gut. Unter 50 Euro lief nichts. Heute unterbieten sie sich gegenseitig. Viele machen es schon für einen Zehner», sagt Claudiu.

Er ist längst nicht mehr nur auf Geld aus. Eine dicke Goldkette baumelt um seinen Hals, er trägt Designerjeans, duftet nach teurem Parfum, und seine Brieftasche ist immer gut gefüllt. Wer seine Dienste in Anspruch nehmen will, muss es sich leisten können, ihn auszuhalten: Claudiu wohnt bei seinen ständig wechselnden Freiern. Heute lässt er sich aber nicht bloß mit Kost und Logis abspeisen, so wie einst, als es bloß darum ging, den kalten rumänischen Wintern auf der Straße zu entgehen.

In den Schweizergarten kommt er immer seltener, lieber kutschiert er mit dem Auto seines jeweiligen Unterkunftgebers durch die Stadt. Abends besucht er einschlägige Bars, lässt sich Drinks ausgeben, schließt Kontakte zu neuen «Sponsoren», wie er sie nennt. Für seine Freunde daheim ist Claudiu ein Held, einer, der es geschafft hat. Nun möchte auch Ionel in die Fußstapfen seines großen Bruders treten.

Birgit Wittstock, 1977 in Wien geboren, ist Redakteurin der Wiener Wochenzeitung «Falter» im Ressort Stadtleben. Für ein Buchprojekt hat sie zwei Jahre lang junge Rumänen auf den Straßen Wiens und Bukarests begleitet.