Endstation Sehnsuchtvorstadt

Über Bahnhofsrestaurationen (5/6)

Ein Speisewagen ist die logische Verlängerung eines Bahnhofsrestaurants. Die Gastwirtschaft auf Rädern hat allerdings viel von ihrem einstigen Glanz und Charme verloren, meint Chris Haderer.

Foto: Simon Pielow

Es ist eine weite Reise von Wien nach Bregenz – 697 Kilometer, die man im Liegewagen mit dem Nightjet in neuneinhalb Stunden überwindet, oder sitzend im Railjet in knapp sieben Stunden. Es ist eine Zeit, in der man sich als Reisender quasi in freiwillige Geiselhaft begibt: Ob Mobiltelefon und WLAN durchgehend funktionieren werden, wissen weder Gott noch der Lokführer, und auch in Überlebensfragen ist man dem Wohlwollen der Zugbegleiter_innen ausgeliefert. Ein Zug, einmal an seinem Kopfbahnhof vom Stapel gelaufen, ist so etwas wie ein Raumschiff auf Schienen – alle für die Reise benötigten Utensilien müssen an Bord sein. Kommt man auf einem Mondflug nicht ohne Versorgungsmodul aus, so ist für einen Fernzug der Speisewagen ein unverzichtbares Detail. Er versorgt die Reisenden nicht nur mit Nahrung, falls der mitgebrachte Wurstsalat zur Neige geht, sondern stellt auch die konsequente Weiterführung eines Gedankens dar: Wer sich vor dem Antritt einer Reise stilvoll im Bahnhofsrestaurant von einem Ort oder einer Zeit verabschiedet, kann im rollenden Restaurant über die Vorzüge der Zivilisation nachdenken und beim Essen Distanzen überwinden, für die man zu Fuß einige Tage unterwegs wäre. Man kann «in vollen Zügen genießen», wie es der deutsche Autor KarlHeinz Karius schon vor Jahrzehnten auf den Punkt brachte – dabei vermutlich aber eher an den Orient-Express der Compagnie Internationale des Wagons-Lits mit seinen luxuriösen Pullmann-Wagen dachte als an das Bordbistro, mit dem die ersten Railjet-Garnituren im Jahr 2012 an die ÖBB ausgeliefert wurden. Ähnlich den Bahnhofsrestaurationen, die von klassischen Wirten und Wirtinnen zu Fastfood-Franchise-Nehmer_innen geschrumpft sind und Shoppingcenter-Atmosphäre versprühen, ist auch die rollende Kulinarik von der Moderne gerädert worden. Ohne einer Erinnerung nachzutrauern, die heute vermutlich schöner ist als damals, hat das Reisen an sich an Glanz verloren; es ist nichts Besonderes mehr, mit dem Zug von Wien nach Triest zu fahren: «Wien-Triest, das war die Südbahn», wie es Ernst Molden ausdrückte. «Das war das Rückgrat einer Sehnsucht, die zur Mitte des vorigen Jahrhunderts geboren wurde.» Molden meinte das 19. Jahrhundert, als die Welt durch Eisenbahnen zu schrumpfen begann und noch nicht wusste, was auf sie zukommen sollte. Von dieser Sehnsucht, die auch eine des Entdeckens war, kann man nur noch lesen – so wie es seit 1994 auch keine direkte Bahnverbindung zwischen Wien und Triest mehr gibt.

Wien Südbahnhof, 1. Oktober 2006.

Es herrscht eine gewisse Ratlosigkeit unter den Gästen des Speisewagens. «Meine Damen und Herren, leider, seit heute ist Rauchverbot», sagt der Speisewagenkellner, der nicht unbedingt glücklich wirkt. Der Großraumwagen mit der ins Ohr gehenden Typenbezeichnung WRmz 88-91.3, ein sogenannter RIC-Speisewagen, der noch in Eurocity- und Intercity-Zügen auf Schiene gebracht wird, ist voll besetzt. Links, mit Blick auf die Bordküche, eine Zeile mit 4er-Tischen; rechts die 2er-Plätze, auf jedem der schwarzen, beweglichen Stühle sitzt jemand. Von den gläsernen Aschenbechern, die am 30. September noch Teil des Tischgedecks waren, fehlt jede Spur. Während der Zug noch im Bahnhof steht, werden Getränke ausgegeben: Die meisten Gäste haben es eilig, sie sind Pendler_innen, die ins knapp eine halbe Stunde entfernte Wr. Neustadt fahren, oder ein kurzes Stück weiter nach Gloggnitz. Ab dort ist der Speisewagen dann nicht mehr überfüllt, sondern überschaubar, und auch die in Meidling zugestiegenen Gäste bekommen ihre Chance auf einen Sitzplatz. Viele Pendler_innen kennen sich, weil sie jeden Tag mit dem gleichen Zug unterwegs sind. Im Speisewagen wird getrunken, geraucht, sozialisiert. Als sich der Zug in Bewegung setzt, wiederholt der Kellner seine Bitte, die eigentlich ein Befehl ist. «Hier darf nicht mehr geraucht werden!» Die Begeisterung unter den Gästen hält sich in Grenzen – und in den nächsten Wochen auch der Ansturm auf den Speisewagen. Über Nacht verlor der Speisewagen seinen Beisl-Status und wurde von seinen Stammgästen nicht mehr als verlängertes Bahnhofslokal wahrgenommen. «Mit dem Rauchverbot in den Speisewagen erfüllen wir einen oft geäußerten Wunsch unserer Kunden», begründete Stefan Wehinger, damals Vorstandsdirektor der ÖBB-Personenverkehr AG, den Schulterschluss mit der Schweiz, Italien oder Spanien. Statt nikotingeschwängerter Luft wolle man der reisenden Klientel in Zukunft «gehobene Küche» bieten – ein edler Plan, der allerdings weder von der Internationalen Schlafwagen-Gesellschaft noch von Trainristo noch von è-express oder Henry am Zug (Do & Co) in genießbare Realität umgesetzt wurde. Ein knappes Jahr später wurde dann ein generelles Rauchverbot im Zug ausgerufen; und ein weiteres Jahr später, 2008, setzte die damalige Gesundheitsministerin Andrea Kdolsky mit der Trennung von Raucher- und Nichtraucherbereichen in Lokalen ein Thema in die Welt, dass die Politik auch zehn Jahre später noch stärker bewegt als Liederbücher mit mehr als fragwürdigen Texten. Heuer gibt es übrigens erneut eine Rochade in der Bordküche: Auf Do & Co folgt die DoN-Gruppe, die vom ehemaligen è-express-Chef Josef Donhauser geführt wird.

Kaffeehaus im Zug.

Die Erfindung des Speisewagens basiert nicht auf romantischen Gefühlen für das Reisen, sondern auf einer simplen Notwendigkeit: auf Fernstrecken mussten die Passagiere versorgt werden. Der erste Speisewagen der heutigen Alpenrepublik wurde am 30. August 1885 von der k. k. privilegierte österreichisch-ungarische Staatseisenbahn-Gesellschaft auf der Strecke von Wien nach Budapest in Bewegung gesetzt, später verkehrte ein Restaurationswaren der Internationalen Schlafwagen-Compagnie auch zwischen Wien und Bodenbach, dem heutigen Děčín im Norden von Tschechien. Während Pullmann die internationalen Standards bestimmte, hielt in Österreich bei der Wiener Lokalbahn Kaffeehauskultur Einzug. Zwischen 1927 und 1939 bewirtete das Wiener Kaffeehaus Pöchhacker die Reisenden auf der Strecke nach Baden mit Kaffee, Mehlspeisen und Imbissen. Die weiß gedeckten Tische und der Kellner in Livree machten die Fahrt zu einem kurzweiligen Vergnügen – auch wenn Komfort und Ausstattung weit vom Pullmann-Klassiker entfernt waren. «Auf schneeweiß gedeckten und mit gediegenem Silbergerät besetzten Tafeln trugen äthiopische Kellner in fleckenlosem Weiß mit zauberhafter Schnelligkeit ein Mahl auf, dessen selbst Delmonico sich nicht zu schämen gebraucht hätte», schwärmte Mark Twain in seinem Text Quer über den Kontinent für die «rollenden Hotels» des frühen Edel-Charterers. «Man darf überzeugt sein, daß wir den Herrlichkeiten Ehre widerfahren ließen, und als wir sie mit Kelchen voll perlenden Schaumweins hinunterspülten, während wir dreißig Meilen in der Stunde durchflogen, mußten wir bekennen, daß uns ein flotteres Leben niemals vorgekommen. Noch mehr leisteten wir übrigens zwei Tage daraus, als wir siebenundzwanzig Meilen in eben so vielen Minuten zurücklegten, während aus unseren bis zum Rand gefüllten Champagnerkelchen nicht ein Tropfen überfloß.» Ein bisschen konnte man sich früher als Pendler zwischen Wien und Wiener Neustadt auch so fühlen, selbst wenn der Weg nach Hause führte und nicht wie der von Mark Twain in den benachbarten Salonwagen, wo er mit seinen Mitreisenden den Abend durch «Absingung einiger schönen alten Kirchenlieder» feierte. Einen Salonwagen wird man bei der ÖBB übrigens nicht mehr finden – die ehrwürdige Garnitur hat seit Jahrzehnten ausgedient und sonnt sich im Eisenbahnmuseum in Strasshof an der Nordbahn im Glanz prominenter Gäste von der englischen Queen bis zu König Juan Carlos.

Blues auf Rädern.

Von Wien nach Graz, Klagenfurt oder Salzburg; eine Reise zwischen zweieinhalb und vier Stunden. Die Veränderungen der Landschaft nimmt man vom Speisewagen aus deutlicher wahr als im Abteil. Überhaupt Veränderungen. 1918 wurde im Wagen von Compiègne, einem ehemaligen Speise- und späteren Salonwagen, der Waffenstillstand zwischen dem Deutschen Kaiserreich und der Entente unterzeichnet, 1940 dann die Kapitulation Frankreichs. Draußen rollen die 80er-Jahre vorbei, die 90er, dann der ausgebliebene Weltuntergang zum Millenniumswechsel. Im Großraumwagen kann man die von Ernst Molden beschriebene Sehnsucht vielleicht noch spüren. Sitzen, reden, essen, trinken, schauen. Der Speisewagen überbrückt Abfahrt und Ankunft, bringt eine Struktur in die Reise, macht aus einer vielleicht geschäftlichen Notwendigkeit ein zumindest kleines Abenteuer. Dazu gehörte beispielsweise ein Telefonat mit dem Zugtelefon, das in einer kleinen Kabine am Eingang des Wagons angebracht war. Während am Horizont die Mobilfunk-Ära schon mehr leuchtete als dämmerte, konnte man in IC- und EC-Zügen etwaige Verspätungen noch per Wertkarte heimwärts kabeln – im Jahr 2003 für stolze 30 Cent pro Minute ins Postnetz. 2008 kam mit der Wirtschaftskrise der Railjet, der dem Speisewagen den Todesstoß versetzen sollte. Als ökonomischer und vor allem effizienter Zug ging er mit einem Bord-Bistro in den Einsatz, mit sechs Sitzplätzen und einigen Stehtischen; ein «Orient-Express für Arme», wie er schnell genannt wurde. Ähnlich der im Rahmen der Bahnhofsoffensive der ÖBB auf effiziente Nutzung getrimmten Stationsanlagen wurde aus dem Speisewagen ein Versorgungsmodul im Raumschiff Zug. Seit 2010 sind im Railjet-Bistro immerhin 14 Sitzplätze verfügbar, auf flugzeugähnlich engem Raum bei vergleichbarer Fertigteil-Verpflegung. «Ich habe kürzlich miserabel gegessen», erinnert sich die deutsche Schauspielerin Sabine Kaack. «Es war in Ulm. Oder Geislingen. Oder in Stuttgart. Jedenfalls war’s im Speisewagen der Eisenbahn.» Nein, hier sitzen keine Dichter und Denkerinnen mehr, die über die unerträgliche Leichtigkeit des Reisens sinnieren. Und hier wäre auch kein Tom Waits zur Einsicht gekommen, dass ihn ein Zug zwar fort, aber niemals nach Hause bringen kann.

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