Engel kehrt heimtun & lassen

Der Tod ist ein teures Geschäft. Wer sich die Begräbniskosten nicht leisten kann, bekommt eine Sozialbestattung. Wie geht unsere Gesellschaft mit Armen nach dem Tod um? Über den Abschied von Rudi Engel, einem AUGUSTIN-Verkäufer.
Text: Franciska Rhomberg, Fotos: Carolina Frank

«Ich hatte schon Angst, dass ich alleine hier bin», sagt Andreas Hennefeld, der Sozialarbeiter. Es passiert öfter, dass er alleine an einem Fürsorgegrab steht – oft versterben Betroffene krank und vereinsamt, Familie und Freunde gibt es keine mehr.
Nicht so bei Rudi Engel: Der steile Kiesweg zum Purkersdorfer Friedhof knirscht geräuschvoll, als die siebenköpfige Trauergruppe hinaufmarschiert. Um 9 Uhr morgens hat es knappe null Grad. Grauer Nebel liegt über der kahlen Hügellandschaft, kalter Wind rauscht um die Gräber und wühlt das bunte Herbstlaub auf. Die vier Bekannten und drei Stammkund_innen des verstorbenen Augustin-Verkäufers frösteln, als sie sich um die gelbe Friedhofskapelle sammeln. Auch ein schwarzer Pinscher-Mischling in Strickjacke ist dabei; «Es ist zwar nicht seine Gipsy», erklärt die Besitzerin. «Aber er mochte seinen Hund so gern, da dachten wir, heut muss auch einer dabei sein!»
Vier kleine Rosen und die Statuette eines schlafenden Schutzengelkindes zieren die schlichte, schwarze Urne. Einzeln steigen die Trauernden drei Steinstufen hinauf, um sich in aller Stille persönlich von Rudi Engel zu verabschieden; auf ein Handzeichen nimmt der Bestatter die Urne auf, der dreiminütige Trauermarsch kann beginnen.

Simpel und anonym.

In Wien gibt es jährlich ca. 17.000 Sterbefälle – wie Rudi Engel werden knapp 800 Menschen sozialbestattet. Statt pompöser Trauerfeier gelten hier zwei pragmatische Grundregeln: Einfachheit und Anonymität. In Wien ist jedes Sozialbegräbnis eine Erdbestattung am Zentralfriedhof, Termin und Grabstelle werden ohne Mitsprache zugeteilt. Die Graberhaltung ist auf zehn Jahre ausgelegt. Namentliche Markierungen gibt es keine; statt persönlichem Grabstein ziert ein schlichtes Holzkreuz die Ruhestätte des oder der Verstorbenen.
Genaue Regelungen sind länderspezifisch unterschiedlich. In Purkersdorf sind aus Platzgründen Feuerbestattungen üblich – was in Wien nicht denkbar wäre. In der Hauptstadt ist die Bestattung Wien als alleiniges Unternehmen für Sozialbegräbnisse zuständig. Warum hier Erdbestattungen Usus sind, erklärt Peter Holeczek, Leiter der zentralen Kundenservicestelle in Simmering: Die Gründe sind nicht nur religiös, sondern auch emotional: «Stellen Sie sich vor, ein Kind verstirbt. Eine Einäscherung gegen den Willen der Eltern, das wäre nicht vertretbar.»

Freundlicher Engel.

«Er war ein problemloser, kommunikativer Mensch: Selbst den Geistesgestörten, der ihm am Kutschkermarkt stundenlang zugeredet hat, hat er nie weggeschickt», erzählt ein jahrelanger Stammkäufer. Insgesamt schlug sich Engel 20 Jahre lang als Obdachloser durch – zehn davon schlief er in einem aufgelassenen Schacht hinter dem Wiener Rathaus. Der Alkohol und eine Scheidung hatten ihn auf die Straße getrieben, «aber man müsse sich mit den Umständen arrangieren und dürfe sich nicht hängen lassen», gab er 2007 offen in einem Interview im Augustin zu. Die Streunerhündin Gipsy wurde privat und beruflich zu seiner treuen Begleiterin. Engel sah sich als professioneller Zeitungs-Verkäufer, Hygiene und Höflichkeit hatten für ihn höchste Priorität. Seine Standorte waren wochentags die U2 Station Rathaus (Ausgang Florianigasse) und samstags der Kutschkermarkt im 18. Bezirk. Engel wollte sich um keinen Preis von Gipsy trennen – er blieb auf der Straße, bis die Gesundheit es nicht mehr zuließ. Dann bekam er samt Hündin einen Platz im Neunerhaus, einer Institution für sozial betreutes Wohnen.
Der Blick einer Besucherin wandert über das überschaubare Friedhofsgelände. «Es ist kein Zufall, dass er jetzt verstorben ist – diese Woche hätte die Gerti, seine Lebensgefährtin Geburtstag gehabt. Jetzt machen sie gemeinsam Party!» Im neuen Zuhause nahm Engels Leben eine glückliche Wendung: Zwischen ihm und einer Mitbewohnerin, die er bereits flüchtig beim Verkaufen kennengelernt hatte, entflammte eine neue Liebe. «Er hat sich rührend um sie gekümmert. Als sie im Krankenhaus war, hat er sie ständig besucht, gelegentlich sogar Blumen vorbeigebracht», erinnert sich eine Freundin. Als Gertrude starb, ging es mit Engels Gesundheitszustand rapide bergab – wegen Demenz und den körperlichen Folgen jahrelanger Obdachlosigkeit musste er in ein Pflegeheim in Purkersdorf verlegt werden.

Kosten über Kosten.

Die Rechnung für eine Bestattung ist vielschichtig: Neben Sarg, Personal und Leichenschmaus müssen zahlreiche weitere Kosten, etwa Totenschein, Sterbeurkunde und anderes amtlich Notwendige, oder die Pachtung der Grabstelle einkalkuliert werden. Nach Angaben der Bestattung Wien kostet die Basis-Erdbestattung etwa 4.500 Euro, Feuerbestattungen fallen um fünf Prozent günstiger aus. Nach oben hin gibt es kaum Grenzen – Sargmaterial, Lage der Grabstelle und aufwändige Überführungen können den Preis extrem in die Höhe treiben.
Selbst eine minimal gehaltene Fürsorgebestattung kostet die öffentliche Hand etwa 3.000 Euro. Doch nicht alle Fälle werden durch die Steuerzahler_innen gedeckt: «Auch der reichste Mensch kann einer Sozialbestattung zugeführt werden», erklärt Holeczek. Sofern weder Vorsorge noch zahlende Kund_innen den Auftrag für ein privates Begräbnis geben, wird der Fall zur Staatssache. Die Rechnung kann im Nachhinein vom Nachlass abgezogen werden, außerdem hat die Familie binnen einer Zehn-Jahres-Frist die Möglichkeit, die Grabstelle zu erwerben – wobei dann auch die staatlichen Kosten rückerstattet werden müssen.
Obwohl Rudolf Engel gebürtiger Wiener war, wurde er in Niederösterreich bestattet. Der Grund dafür: Er verstarb in einem Purkersdorfer Pflegeheim. In einem Wiener Heim konnte trotz Bemühungen seitens des Neunerhauses kein Platz für ihn gefunden werden. Ein Missstand, der die Leiterin vom Neunerhaus Kudlichgasse, Barbara Klaar, schon seit 30 Jahren beruflich begleite, wie sie im Gespräch mit dem Augustin betont. Gesetzlich fällt ein Mensch ab dem Zeitpunkt seines Todes unter die Zuständigkeit der Gemeinde, in der er verstorben ist – Überführungskosten sind bei Sozialbestattungen nicht vorgesehen.

Geteilte Erfahrungen.

Alle Beteiligten empfanden den Abschied von Rudi Engel als besinnlich. Doch nicht alle Erfahrungen sind positiv: Sonja Hopfgartner ist in der Sozialarbeit beim Augustin tätig und hat viele Sozialbestattungen persönlich miterlebt. Den Zeitdruck, der am Zentralfriedhof den Takt angibt, bezeichnet sie als pietätlos. «Es kommt oft vor, dass das ganze Prozedere nicht einmal zehn Minuten dauert. Da sage ich bewusst: Leute werden einfach so verscharrt.» Ihre schlimmste Erfahrung: «Während einer Verabschiedung wurde mit Kleinbagger das Nebengrab ausgeschaufelt. Es war ein ziemlicher Lärm, einfach respektlos. Wie eine Beerdigung auf einer Baustelle.» Trotzdem betont sie, dass auch schöne Erlebnisse dabei waren. «Einmal war ein zweiter Sarg im Raum, eine alte Frau, zu der niemand gekommen ist – wir haben sie spontan mitverabschiedet, es war sehr berührend.»
Auf die Frage hin, ob Sozialbestattungen unternehmensintern einen weniger hohen Stellenwert haben, schüttelt Peter Holeczek vom Kundenservice vehement den Kopf. «Wer hier den Respekt vor dem Toten verliert, hat seinen Job verfehlt.». Auch der «einfachste» Mensch habe ein ordentliches Begräbnis verdient – das Unternehmen sei in erster Linie nicht gewinnmaximierend ausgerichtet.
Zu den Unterschieden zwischen sozialen und privaten Begräbnissen sagt Sonja Hopfgartner: «Man trauert anders.» Enge Bekannte von Verstorbenen, die eine Sozialbestattung besuchen, stammen oft selbst aus ärmlichen Milieus. «Die Leute verkleiden sich nicht – sie tragen nicht Schwarz, keinen Anzug, sind einfach normal. In diesen Momenten wird auch diesen Menschen bewusst, dass sie ein Stückweit aus dem gesellschaftlichen System gefallen sind: Nicht nur Trauer, sondern auch Angst und Scham um die eigene Lage kommen hoch.»
«Konkrete Unterschiede gibt es nicht», sagt Peter Holeczek. Das einzig Auffällige sei die minimale Ausstattung: einfacher Sarg, kleiner Blumenschmuck, weder Musik noch endlose Nachrufe. Termin und Grabstelle sind zugeteilt, auf dem Grab steht kein Name, es sei denn, Angehörige oder Freund_innen fügen selbst einen hinzu, was durchaus vorkommt. «Aber man geht genauso respektvoll und ordentlich mit dem Toten um wie bei jedem anderen Begräbnis auch» so Holeczek.

Endgültiger Abschied.

Der kurze, steile Aufstieg zur Grabstelle ist schnell getan. Jemand lässt eine rote Rose an der Seite baumeln, der kleine Hund kläfft zweimal. Außer dem Windsausen und der leise plaudernden Trauermenge ist nichts zu hören, der Straßenlärm dringt nur gedämpft zum Friedhofshügel hoch. Mit ernster Miene platziert der Bestatter die Urne in der bereits ausgehobenen Stelle. Pfarrer ist keiner anwesend – stattdessen sprechen Anwesende ein paar tröstende Worte.
«Jö, du hast sogar eine Rose für den Rudi mit!», freut sich ein Bekannter, den Engel aus dem Neunerhaus kannte. Als die Reihe an ihm ist, eine Schaufel Erde auf die Urne zu werfen, zieht er einen Briefumschlag aus der Jackentasche. Beim Beilegen seines Mitbringsels reißt er plötzlich die Augen auf, eine Träne kullert über seine Wange in den Bart. «Machs gut, Rudi!», ruft er seinem verstorbenen Freund nach.

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