Chill-out-Lounge für Augustiner-Chorherren?
Eine Parallelwelt sollen sich die Mönche des Augustiner-Chorherren-Stiftes Klosterneuburg in den Dachbodenzonen des riesigen Gotteshauses geschaffen haben. Robert Sommer fasst die bisherigen Forschungsresultate zusammen.Diese Bilder schocken konservative Christ_innen. Als erste Zeitung ist der Augustin informiert worden. Die ausgedehnte Dachbodenwelt des Chorherrenstiftes Klosterneuburg, die nur mit Erlaubnis des Abtes betreten werden kann (und eine solche Erlaubnis erhalten nur ausgesiebte Handwerker_innen, die unter dem Dach Erhaltungsarbeiten durchzuführen haben) ist übersäht mit Zeichen des Lebens. Sexuelle Motive dominieren. Abwechselnde Generationen unbekannter Künstler_innen haben Spuren hinterlassen, die die Frömmigkeitsnormen der katholischen Kirche ignorieren.
Archäolog_innen sprechen von einer sehr selten vorkommenden Verschmelzung von Höhlenmalerei und Graffiti-Kultur; anhand der Fotodokumentation (ein unmittelbarer Zugang zu den Bildern ist ihnen untersagt) können die Wissenschaftler_innen das Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen begreifen lernen.
Es gibt erste Hinweise darauf, dass die ausgedehnte Dachbodenwelt des Stiftes von den Augustiner-Chorherren, die strengen Mönchsregeln unterworfen waren, als eine Art Paralleluniversum genutzt wurde, das die Funktion einer Chill-out-Lounge erfüllte. In der Verfassung des Ordens heißt es: «Die Keuschheit um des Himmelreiches willen, die unter den evangelischen Räten besonders hervorragt, müssen wir als hohes Gnadengeschenk und Quelle vieler Gaben in hohen Ehren halten.»
Das geht auf Augustinus zurück, der den «Gottgeweihten» Enthaltsamkeit befahl. «Niemand rede sich ein», äußerte er in einer Predigt, die Zeit der Versuchung sei vorbei. Wie recht er hatte, muss man sich angesichts der entdeckten Malereien denken. Solange Menschen, die «die ehelose Keuschheit gelobt und sie Gott geweiht haben», lebten, seien sie vor Anfechtungen nicht sicher. Augustinus nennt zum Schutz der Keuschheit «natürliche Hilfsmittel», mit deren Unterstützung es leichter möglich sein soll, alles, was dieses Ideal gefährden könnte, «mit feinem Gespür» von sich zu weisen. Den Mönchen in Klosterneuburg wurde aufgetragen: «Wacht gegenseitig über eure Reinheit.» Dieser kirchenamtliche Versuch, eine gegenseitige soziale Kontrolle zu etablieren, ist gründlich danebengegangen, wenn die Thesen jener Archäolog_innen stimmen, die von einer mönchischen Autorenschaft der Dachbodenbilder ausgehen.
Die Lebenszeichen in den verbotenen Zonen des Stiftes lassen auf eine fundamentale Schubumkehr der Graffiti-Kunst schließen. Der Felsbildforscher Jean Clottes meinte zu den prähistorischen Malereien: «Die Menschen haben damals aufgrund ihres Glaubens in Höhlen gemalt und graviert. Höchstwahrscheinlich glaubten sie einfach, dass die unterirdische Welt eine übernatürliche Welt ist. In den Grotten glaubten sie, Geistern, Göttern, ihren Vorfahren, Verstorbenen zu begegnen. Die Bilder sollten als Mittler zwischen der hiesigen und der jenseitigen Welt dienen.» Die Bilder des Stiftdachbodens aber – sie stammen aus allen Epochen des zwanzigsten Jahrhunderts – lassen eine kollektive Abkehr vom Glauben erahnen. Sie könnten als Zeichen eines heimlichen Säkularisierungsprozesses der Klosterneuburger Mönchsgemeinschaft gedeutet werden. Damit vollziehen sie freilich eine irreversible Entwicklung des Chorherrenstiftes nach: Als Wald- und Weingartenbesitzer, als drittgrößter Bodeneigentümer in Wien und im Bestreben, dieses Eigentum profitabel zu verwerten, hat das Stift längst einen Weg der Säkularisierung eingeschlagen, der sich in der De-facto-Entmachtung der religiösen Führung des Stiftes durch die Wirtschaftsmanager äußert. So gesehen sei es nur eine Frage der Zeit, dass die geheimnisvollen Dachbodenzeichnungen Zielpunkt touristischer Führungen werden könnten. Das hoffen die Archäolog_innen – aber sie fürchten sich auch davor, weil Übermalungen durch verantwortungsarme Tourist_innen drohen.