Wer fürchtet sich vor Lanz von Liebenfels?
Wer soll sich auch vor einem abgesprungenen Zisterziensermönch fürchten, der schon seit 58 Jahren tot ist?Die ältere Dame betritt den gemütlichen Gasthausgarten. Ihr Ziel ist ein Stammtisch, an dem ein paar Künstler versammelt sind. Ein relativ junger Mann ist gerade im Begriff, sein Manuskript einem Kleinverleger anzupreisen. Seine Ideen, doziert er, würden der Welt endlich Frieden bringen. Der Kleinverleger wirkt erschöpft.
Und wie geht das?, fragt die ältere Dame zum Entsetzen der anderen, die verzweifelte Blicke gegen den Abendhimmel werfen.
Wie das geht?, meint der relativ junge Mann. Also so rasch könne er das nicht erklären, denn es sei wissenschaftlich. Doch im Wesentlichen handle es sich darum, zunächst einmal alle Ethnien er betont das Wort auf dem i voneinander zu trennen.
Während die ältere Dame überlegt, welcher Ethnie sie selbst angehört bzw. wie sie die ihr innewohnenden Ethnien auf ihre diversen Körperteile verteilen soll, um sie anschließend voneinander trennen zu können, fährt er fort. Er komme gerade aus Indien. Er habe drei Jahre lang dort gearbeitet.
Als was?, fragt sie.
Beim Film, sagt er. Die indische Gesellschaft sei beispielgebend.
Inwiefern?, fragt sie.
Man kommt sich nicht in die Quere, antwortet er.
Sie meinen doch nicht das Kastenwesen?
Doch, das meine ich, sagt er. Bei uns in Europa glauben viele, man würde in eine Kaste hineingeboren. Doch so sei das nicht. Wenn man zum Beispiel nichts lernen wolle und keine Ausbildung habe, dann komme man in die unterste Kaste. Ist doch logisch, oder?
Der Kleinverleger schweigt. Der Dichter, der neben ihm sitzt, lehnt sich etwas zurück, verdreht die Augen und tippt sich an die Stirn. Sein Nachbar, ein Kameramann, fixiert die ältere Dame mit einem halb gequälten und halb amüsierten Blick. Irgendwie muss sie jetzt reagieren. Aber wie?
Also diese Theorie hab ich noch nie gehört, stammelt sie, wobei sie sich vergeblich bemüht, ihre Stimme ironisch klingen zu lassen. Diese berühmte indische Schriftstellerin, mir fällt jetzt nicht ein, wie sie heißt, die dieses Buch geschrieben hat, zu blöd, jetzt fällt mir auch der Buchtitel nicht ein. Die hat das jedenfalls ein bisserl anders beschrieben.
Das war vielleicht früher, meint der relativ junge Mann etwas von oben herab. Aber Indien hat sich entwickelt und entwickelt sich in einem rasanten Tempo weiter. In Österreich wird man völlig falsch informiert. Hier wird einem vieles vorenthalten. Zum Beispiel auch, dass der Nationalsozialismus auf hochwissenschaftlichen Ideen beruht.
Aha, sagt der Kleinverleger höhnisch. Die Thule-Gesellschaft.
Jetzt fällt der älteren Dame endlich das Wort ein, das ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge liegt. Das Wort lautet: Rassenentmischung.
Aber sie sagt es nicht. Um den schönen lauen Sommerabend nicht völlig zu verhunzen. Da erstrahlt plötzlich der Gasthausgarten in einem merkwürdigen Licht. Und aus einem nahe stehenden Baum erscheint ein uralter freundlicher Herr. Einen schönen Abend wünsche ich, sagt er. Gestatten, mein Name ist Lanz von Liebenfels. Sie verzeihen, dass ich mich in Ihr Gespräch einmische. Aber da Sie er wendet sich an die ältere Dame ein Wort denken, das ich einst prägte, habe ich wohl das Recht dazu. Es ist nämlich wirklich empörend, dass manche sogenannte Wissenschaftler behaupten, es gebe keine Menschenrassen. Sogar dieser sonnenhaarige, himmelsäugige, offensichtlich arioheroische junge Mann mit den vernünftigen Ansichten nimmt das Wort Rasse nicht in den Mund. Ganz zu schweigen von diesem Herrn er deutet auf den Kleinverleger , der seine blauen Augen mit Augengläsern und seine blonden Haare mit einer Kappe verdeckt und obendrein niedermenschliche Lehren verbreitet. Schriftsteller wollen Sie sein? Dazu benötigen Sie noch einiges an Aufklärung. Immerhin war ich mit Strindberg und Herzmanovsky-Orlando befreundet. Sogar Hitler hat meine Ostara-Hefte gelesen. Hat jemand noch eine Frage an mich?
Ja, sagt der Kleinverleger, haben Sie nicht selbst eine Brille getragen?
Sicher, sagt Herr Lanz. Aber aus anderen Gründen als Sie.
Bevor der Kleinverleger fragen kann, was das bedeuten soll, meldet sich der Dichter zu Wort: Stimmt das, dass Sie auch Lenin anagitiert haben?
So eine stupide Frage, antwortet Herr Lanz, ich habe niemanden anagitiert, was für ein scheußliches Wort. Doch ich habe Herrn Lenin auf die Wahrheit hingewiesen, die er leider ignoriert hat. Will noch jemand etwas wissen?
Ja, meint eine Malerin, die Theologie studiert hat: Wo wohnen Sie derzeit? Im Jenseits? Im Himmel? In der Hölle?
Endlich eine gescheite Frage. Ich wohne im Erdinneren, dort wo meine arischen Brüder leben, was manche meiner Kollegen schon seinerzeit vermuteten. Allerdings befinden sich die Tore zur Erdoberfläche nicht an so spektakulären Orten wie etwa dem Himalaya, wo sie die SS damals gesucht hat, sondern aber das werde ich Ihnen nicht verraten.
Und mit einem Kichern löst sich Herr Lanz in nichts auf.