Die Entsiegelung der Oberflächen unseres Planeten ist gewagte Moderne und modernes Must-Go. Gedanken über den Rückbau des europäischen Straßennetzes auf Güterwegniveau.
Text: Robert Sommer
Fotos: Lisa Bolyos
Aus größerer Distanz betrachtet, sind die Wald-und Wiesenhügel des österreichischen Alpenvorlandes von schwungvollen weißen Linien durchzogen, die mehr oder weniger elegant an die Geländeoberfläche angepasst sind. Es sind die «weißen Wege»: unbefestigte Güter-, Alm-, Forst- und Mautstraßen, weniger als drei Meter breit; die Farbe ist erklärbar durch die Anteile von Kalkgestein in diesen tausendjährigen Bändern, deren wilde «Landschaftsarchitekt_innen» ihre traditionellen Methoden kaum änderten, seit sie aus bayerischen und slawischen Gefilden hierher kamen und Transportverbindungen zwischen Stadt und Land schufen. Das Spiel dieser von Menschen gemachten weißen Wege mit den Reliefs hätte den Bauern und Bäuerinnen gegen Ende der Völkerwanderung kaum jemand zugetraut. Was es an Noblesse gab, stahlen sich die blauäugigen Barbar_innen aus den Deponien der weströmischen Zivilisation zusammen – so das zeitgenössische Vandalismus-Bild.
Wie Grubenkraut in Krautgruben.
Als sie tausend Jahre später, jeweils von einer Generation zur nächsten übertragen, immer noch denselben Güterwegstaub schluckten und immer noch mit demselben Ochsenkarren zum Markt schaukelten, und als die Schaufel, mit der man die Krautgrube für das Grubenkraut aushob, nur mehr durch den Rost zusammengehalten wurde, hatten sie irgendwie keinen Bock mehr auf die Bewahrung des Alten. Hand aufs Herz, liebe Leserin, lieber Leser – was würden Sie innerlich spüren, kämen sie zufällig in das Heimatmuseum ihrer Bezirkshauptstadt, und die 500 Jahre alte Schaufel, die die Vor-vor-vor-vor-vorfahren endlich in den Müll warfen, nachdem sie das Nasenbein des Zehenteintreibers zerquetscht hatten, stünde Ihnen als Ausstellungsobjekt gegenüber … Das ganze vernachlässigte Land teilte das Schicksal des Grubenkrauts, der Schaufel und der alten Schotterstraße. Die letzten unbefestigten Güterwege wurden zu peinlichen Überbleibsel des Mittelalters.
Doch über Nacht, historisch gesehen, wendete sich das Blatt. Über Nacht ist das Alte wieder neu geworden. Dank 14-jähriger Schüler_innen, die ihren Tanten und Onkeln erklären, was Bodenversiegelung bedeutet, kommen die widersprüchlichsten Interessenslagen zutage. Die Betonierung und Asphaltierung der Güterwege ist ein Klimaerwärmungsfaktor, einerseits wegen des tatsächlichen Flächenverbrauchs, andererseits wegen der verheerenden politischen Symbolik, deren Botschaft das Land in zwei Bevölkerungsteile spaltet. Beide sind hinterm Lenkrad zu finden. Aber der eine ist skrupellos und beansprucht das nicht einmal mehr vom ÖAMTC verteidigte Recht des freien Mannes auf die Überholspur, der andere besitzt Restskrupel und kann von der Klimapolitik noch nicht abgeschrieben werden; und ein dritter Teil hätte die Autoschlüssel längst in eine Gletscherspalte (wenn es denn morgen noch eine gäbe) versenkt, wenn der letzte Halbstundentakt-Regionalbus zwischen Wien-Margareten und Nikitsch/Bgld. um ein Uhr früh zur Verfügung stünde. Bürgermeister_innen, die sich rühmen, die letzte Staubstraße in ihrem Gemeindegebiet zum Verschwinden gebracht haben, bringen sich selbst in Stress: Wie sichere ich die Stimmen der Bauern bei der nächsten Gemeinderatswahl? Durch einen zweispurigen Ausbau der Hofzufahrtsstraßen?
Wer hat den dicksten Mähdrescher?
Diese Bürgermeister_innen sind gut beraten, sich der Kritik der Versiegelungspolitik zu öffnen. Die verwegenste Form der Kritik ist die Idee des Rückbaus der befestigten Straßen. Das gewachsene Netz der Güterwege reicht als Basisinfrastruktur des motorisieren Verkehrs am Land aus. Das Rückgrat des Personenverkehrs wird ein E-Bus-System sein, das in keinem Teil dieses Systems eine längere Wartezeit als eine Stunde zulässt. Das Prinzip «Eine Familie – drei bis vier Autos» wird ohnehin bald der Vergangenheit angehören, weil man für die Beibehaltung des aktuellen Motorisierungsgrades Energie in einer Menge braucht, die es unmöglich macht, die CO2-Ziele zu erreichen.
Das Argument der Landwirt_innen, Straßen ohne Asphalt- und Betonverfestigung seien dauernd reparaturbedürftig, weil sie dem Gewicht der neuen Generation landwirtschaftlicher Geräte nicht standhielten, ist hausgemacht, denn die im zweijährigen Rhythmus erneuerten Maschinenparks verfügen über die seltsame Eigenschaft, immer mehr Tonnen auf den Weg zu bringen. Wenn Ausbesserungsmaßnahmen nötig sind, steht mit dem praktizierten Modell der Güterweggemeinschaften ein exemplarisches außerstaatliches Reparaturmanagement zur Verfügung. Interessengegensätze sind vorprogrammiert, weil erstens die Quelle der Entsorgungskosten für den Straßenbelag, der zum Teil Sondermüllqualitäten aufweist, zum Kampfthema werden wird, weil zweitens der öffentliche Charakter des Kleinstraßennetzes gegenüber Partikularinteressen verteidigt werden und weil drittens verhindert werden muss, dass die Kosten des stupiden bäuerlichen Nachbarschaftswettbewerbs –«Wer hat den dicksten Mähdrescher?» – der Allgemeinheit aufgehalst werden.
Das Übergewicht des bäuerlichen Fuhrparks ist zum Skandal geworden, zumal wir wissen, dass für den Großteil der Bäuerinnen und Bauern eine gemeinsame, genossenschaftsförmige Nutzung nicht in Frage kommt. Man glaubt es kaum: Moderne Güllegespanne erreichen heute ein Gesamtgewicht von 40 Tonnen. Zum Vergleich: Der deutsche Kampfpanzer Leopard 1 wiegt 42,5 Tonnen. Zugmaschinen, Anhänger und Mähdrescher sind breiter als erlaubt, sie zerstören den Grenzbereich zwischen Asphaltdecke und Grünstreifen. Die Reparaturen zahlen in der Regel die Anlieger_innen und nicht die, die den Schaden verursacht haben.
Lebensraum für Regenwürmer.
Wir bewegen uns freilich auf einem Terrain, auf dem kein Akteur, keine Akteurin zur Gänze unschuldig ist. Der Skandal um das Verschwinden der Böden und den Flächenverbrauch wird den Bürgermeister_innen zugeschrieben. Es wird wohl stimmen, was mir linke Landschaftsplaner_innen sagen: dass Bürgermeister_innen zu viel Macht in der Agenda der Flächenwidmung haben. Wenn sie Geld für die Gemeinden brauchen, widmen sie Grünflächen in Bauzonen um. Aber das allein erklärt nicht die mörderische Geschwindigkeit, in der das Grünland verschwindet. Wenn ich mit meinem Auto in den Supermarkt am Rande der Kleinstadt einkaufen fahre, stecke ich mit den Zerstörer_innen unter einer Decke. Meine Sühne besteht darin, mich mit meiner Utopie des Straßenrückbaus lächerlich zu machen.
Laut WWF verschwindet in Österreich täglich ein Lebensraum von über elf Millionen Regenwürmern unter einer Betonschicht. In Österreich wurden bis zum Jahr 2019 insgesamt fast 6.000 Quadratkilometer Boden verbraucht. Das entspricht sieben Prozent der Landesfläche und 18 Prozent des Dauersiedlungsraums, deshalb müssten nicht nur Straßen, Parkplätze und Flughafenpisten, sondern auch die wasserundurchlässigen Beläge der Innenhöfe der Wiener Gründerzeitbauten entsiegelt werden. Von einer wirklichen Schwammstadt verlange ich ein paar verwegene, von den Kids selbst entworfene Beton-Fantasielandschaften für Abenteuer-Skating und ein paar bis ins Lot ebene Flächen zum Eisstockschießen im Sommer. Für diese bescheidenen Vorschläge habe ich mir den Ehrentitel «kleinbürgerlicher Autohasser» zugezogen.
Der vermeintlich inflationär ins Treffen geführte Fußballfeldervergleich, laut dem es 2016 zu einem Flächenverbrauch von zwanzig Fußballfeldern pro Tag kam (Quelle: www.umweltberatung.at), bringt Journalist_innen zum Gähnen. Leider ist so ein Ehrentitel tatsächlich keine politische Reputation.
Biker_innen for Future?
Ein Blick in die sozialen Medien, insbesondere auf die Portale der Motorrad-Freizeitvereine («Die Fahrwegenen» nennt sich einer davon) suggeriert im ersten Moment: Immerhin zählen auch die Biker_innen zu den Fans der ein besonderes Fahrvergnügen bereitenden unbefestigten Pisten von Pass zu Pass. Mit Videokameras erinnern sie sich gegenseitig an ihre wildesten Rudelbildungen abseits des Asphalts. Im Netz sind ihre Routenvorschläge abrufbar. Wegen der vielen Fahrverbote müssen diese legalen Routen sehr ausgetüftelt sein. Der Hammer sei die Schotterroute durch das Waldviertel, Tulln – Großweikersdorf – Ziersdorf – Krems, einhundertzwanzig Kilometer lang.
Es gibt Gelegenheiten und Situationen, wo Familien zusammenkommen und richtig zu plaudern beginnen. Oft ist man ganz betropetzt, wenn man dabei Dinge erfährt, die man als aufmerksamer Hinhörer längst wissen müsste. Zum Beispiel: Brüderlein ist Obmann einer niederösterreichischen Biker-Horde namens «Wiesenbacher Brummer». Da es noch nicht verboten ist, Arbeit und Feiern zu verknüpfen, muss er ein kurzes Interview aushalten. Also, wie steht ihr zum Schotter? Franz S. ist um eine Antwort nicht verlegen: «Vergiss diese romantischen Staubstraßen-YouTubes», meint er, «heute ist das Wetter schön, und rate einmal, wo meine Mitglieder unterwegs sind! Ausschließlich auf Asphaltstraßen. Das hat nichts mit politischer Unkorrektheit zu tun. Wenn wir auf Asphalt fahren, verringern wir die Gefahr, von weggeschleuderten Steinen getroffen zu werden. Aber das Wichtigste: Wir reduzieren die Feinstaubbelastung, wenn wir befestigte Fahrbahnen benutzen.»
So erfreulich das sich verbreiternde Wissen über die Ökologie der Motorisierung und die Ursachen des Klimawandels ist: Es gibt Mythen, die sich als langlebig herausstellen. Die weißen Staubwolken, die eine dank fehlendem Gegenverkehr hemmungslose Harley hinter sich herzieht, haben wenig mit Feinstaubbelastung zu tun. Feinstaub ist ein Teil des Schwebestaubs – so werden die Teilchen in der Luft bezeichnet, die nicht sofort zu Boden sinken, sondern in der Atmosphäre verweilen. Mit bloßem Auge ist Feinstaub nicht wahrzunehmen. Verkehrsclub-Österreich-Pressesprecher Christian Gratzer: «Die Faustregel lautet: Je kleiner die Partikel, umso gefährlicher sind sie für die Menschen. Diese geraten sehr tief in die Lunge und in die Blutbahnen.» Am tödlichsten sei der ultrafeine Dieselruß. Und wer sind die Hauptverursacher von Feinstaub? Kratzer: «In Mitteleuropa stammt ein wesentlicher Anteil des Feinstaubs aus Emissionen von Dieselmotoren.»
Wäre Zement ein Land …
Noch scheint eine Forderung nach einem nationalen Plan zum Rückbau des Straßennetzes in Stadt und Land als österreichischer Beitrag zur Erreichung der Klimaziele und der Entschleunigung eher auf Faschingsgilden als auf parlamentarische und staatliche Institutionen zugeschnitten zu sein. Schon taucht jedoch ein Verwandter des Öl- und Kohleschocks auf, um seine Anerkennung als struktureller Faktor der Mobilitäts- und Energiekrise einzufordern: das Aus des Zements. Wäre Zement ein Land, wäre es nach China und den USA der größte Treibhaus-Emittent der Welt. Der Baustoff ist für acht Prozent des jährlichen globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich, als Hauptbestandteil von Beton hält er die anderen Rohstoffe – Kies, Sand und Wasser – zusammen. Zement besteht aus Kalkstein, der in verschiedenen Schritten durch fossile Energieträger verbrannt und aufgeheizt wird, wodurch jährlich 2,8 Milliarden Tonnen CO2 freigesetzt werden.
Gotland – Liebesgrüße aus der Zukunft des Zements: Die durch richterliche Initiativen unterstützte schwedische Zivilgesellschaft hat erreicht, dass große Teile der schwedischen Bevölkerung die Fortführung des Kalkabbaus durch den deutschen Cementa-Konzern als skandinavisches Umweltverbrechen Nr. 1 einschätzen. Die Umwelt-NGOs legten Dokumente vor, die der Baukonzern nicht denunzieren kann. Einbrüche von Meerwasser könnten zum Ende der natürlichen Wasserversorgung der Ostseeinsel führen. Gotland versorgte ganz Schweden mit Zement, die Fertigstellung eines der weltweit größten Autobahntunnelprojekte, Stockholm Bypass, ist gefährdet. Die Monsterbaustelle des österreichischen Baukonzerns STRABAG ist, wie eine Drohnenvideokamera zeigt, gespenstisch menschenleer. Sie zerstört das Stockholmer Pendant des Wienerwaldes. Das Projekt hat keine Zukunft, ebenso wenig wie das Vorhaben der STRABAG-Rivalin ASFINAG im Nationalpark Lobau. Der eine Konzern scheitert am Zementengpass, der andere an den Camps des Widerstands. Umgekehrt wär’s genauso schön.