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Projekt Invalidenstraße: Der Mensch IST nicht behindert

Die Autorin des folgenden Beitrags, Gründerin des Theaters der Unterdrückten (TdU) Wien, ruft gemeinsam mit der Performance-Gruppe DanceAbility (Augustin Nr. 297) zu einem Umzug am 28. Mai auf. Dabei soll die Invalidenstraße in Wien 3 symbolisch umbenannt werden. Die drei Anliegen des Projekts «Invalid Street»: Freiheit der Kunst im öffentlichen Raum, Stadt ohne Barrieren und eine neue Sensibilität im Sprechen und Schreiben.Zur Frage des öffentlichen Raums. Gibt es den überhaupt noch? Oder ist es ein kolossaler Privatraum, besessen von Firmen, kapitalorientierten VeranstalterInnen einer entseelten Eventkultur, der Dreifaltigkeit des Neoimperialismus, Nike, Coca-Cola & Co? Egal ob es nun die Überschwemmung von Bezirken mit Wettbüros, Zubetonierung von Parks für Konzerthallen für die Wiener Sängerknaben oder Autobahnen durch die Lobau sind, der Öffentlichkeit, den BürgerInnen scheint hier schon lange nichts mehr zu gehören. Hier scheint ein Zitat von Peter Sloterdjik zutreffend: «Die Stadt war unsere Wette darauf, dass Menschen fähig sind, die Natur zu besiegen und sie zur äußeren Natur, zu Natur vor den Toren zu machen. Die Hauptstädte der Welt sind monumentale Beweise für den Siegeswillen der Kultur und für die Passivität der Natur. Wer Stadt sagt, meint den Triumpf der Künstlichkeit.»

Bei dieser siegenden Künstlichkeit muss nun der Mensch um Genehmigungen anfragen, wenn er oder sie sich ausdrücken oder leben will, so wie es ihr oder ihm entspricht und er oder sie es will. Die Leuchtreklamen der Innenstadt haben mich noch nie um Genehmigung für irgendwas gefragt.

Richtig geschminkt zum Personalchef

Zur Frage der Barrierefreiheit. Integration, Benachteiligung sind schlagende Worte, Schlagworte eines medialen Alltagsvokabulars. Hier bezieht sich das Wort Barriere nicht nur auf die Barrieren aus Beton. Ein in Frankreich lebender Freund erzählt mir, dass das französische Arbeitsmarktservice für arbeitssuchende Frauen Kurse in RELOOKING anbietet. Das sind Kurse, in denen den Frauen beigebracht wird, wie man sich für Bewerbungsgespräche vorbereitet, indem man sich besser kleidet, anders frisiert und schminkt. Das Problem der Arbeitslosigkeit in Frankreich liegt also keineswegs in den politischen Strukturen, sondern hat seine Wurzeln in der Hässlichkeit der betroffenen Frauen?

Das Ablenken davon, dass es Verantwortlichkeit gibt, geschieht durch die Inszenierung der Begrifflichkeiten. Eine Bekannte sagte in einem Gespräch vor kurzem: Meine Tochter ist nicht behindert, sie wird behindert! Und wenn man von, wie es jetzt vielerorts üblich ist, benachteiligten Menschen spricht, dann muss man konsequenter Weise auch fragen, WER sie benachteiligt.

Ein Exkurs in die Sprachwissenschaft sagt uns, dass der Sprechakt, der aus drei Teilen besteht, die kleinste Einheit sprachlicher Kommunikation darstellt. Diese Sprachhandlung folgt bestimmten Regeln und beschreibt die Verhaltensweisen zwischen Sprechenden und den sie Hörenden. Mir scheint, der Unterschied zum geschriebenen Wort ist hier kein großer. Der erste Teil des Sprechakts (oder Schreibakts) besteht aus der Äußerung (bzw. Verschriftlichung) der Laute und Wörter in ihrer Bedeutung. Der zweite Teil besteht darin, dass durch die Äußerung eine bestimmte Handlung vollzogen wird (z. B. Drohung, Wunsch, Versprechen, hier wirds für uns interessant: Anweisung oder Verbot ). Und der dritte Teil besteht darin, dass eine Wirkung auf den/die HörerIn/Leserin ausgeübt wird (sie befolgt die Anweisung oder sie widersetzt sich, macht sich darüber lustig etc.).

Die Künstler, die Künstlerin in uns schlafend

Aber mehr als das, Sprache erzeugt Bilder. Wir werden in eine Welt geboren, die wir nicht gemacht haben. Und wir orientieren uns an dem, was uns umgibt. Wir wachsen in der Schlachthausgasse auf und sollen uns nicht deprimieren. Wir ziehen in den Wohnbau und erfahren, was alles verboten ist. Wir stehen vor der Lueger-Statue am Stubentor und wissen nicht, womit dieser Mann das Denkmal verdient hat. Wir hören «Neger» und lernen, es sei die Bezeichnung für schwarzer Mensch; wir hören «behindert» und lernen auch so zu sehen, zu fühlen und zu denken. Wir begegnen Menschen, die «anders» sind, und sind befangen. Wenn wir selbst in der Rolle der «anderen» sind, dann wachsen wir über uns hinaus, kämpfen, überleben, entwickeln Strategien, wie wir damit durch-kommen. Wir werfen uns selbst vor, nicht zu genügen, und nehmen wenig Raum in Anspruch. Das hat einen Grund.

Viele Barrieren sind unsichtbar, sind nicht nur fehlende Aufzüge, hohe Bordsteinkanten und die Abwesenheit von sensorischen oder akustischen Signalgebern. Sie sind sichtbar unsichtbar verborgen, in den Begrifflichkeiten, mit denen wir aufwachsen, in den Bildern, die uns umgeben, in den Konzepten, die uns vermittelt werden.

Schließlich zum Thema der sensiblen Sprache. Durch sie können wir dem Unsichtbaren begegnen, und zwar viel mehr noch als durch eine sensible Sprache, durch eine sensible Wahrnehmung dessen, was wir nicht wissen. Also einer Bewusstheit über das in unserer Bewusstheit Schlafende, Augusto Boal hätte vielleicht gesagt, über die schlafenden Künstlerin/den schlafenden Künstler in unserem Inneren.

Goethe sagt, die Gewalt einer Sprache ist nicht, dass sie das Fremde wir könnten auch sagen: das Unbekannte abweist, sondern dass sie es verschlingt. Diesem Verschlingen wollen wir Einhalt gebieten! Das Unsichtbare sichtbar sein lassen, bevor es verschluckt wird, in wohlwollenden Erlässen und gut gemeinten Ratschlägen wie z. B. in der U-Bahn, die uns ganz unwienerisch ans Herz legt, «zurück zu bleiben». Das Hirn ist ein Privileg des Menschen, nehmen wir auch wieder das Recht an uns, es eigenständig zu benutzen, indem wir auf uns selbst aufpassen z. B. Dann werden wir vielleicht auch aufeinander aufpassen das, und nichts weniger, wäre uns zuzutrauen.

Die Welt, in die wir geboren werden, ja, sie ist schon gemacht. Aber es gibt keine fertigen Menschen! In dieser Dialektik, dieser Auseinandersetzung des zu einem bestimmten Zeitpunkt geborenen Menschens mit seiner Welt finden sich die Zwischenräume, die uns auf dem Weg einer Veränderung begleiten.

Die Schlachthausgasse könnte zur Straße zum Prater werden, in den Grünanlagen des öffentlichen Wohnbaus könnten Gemeinschaftsgärten entstehen, der Baum am Stubentor könnte anstelle Luegers bewundert werden, wir könnten über Nationalitäten lernen, von denen wir nichts wissen, und unsere Kommunikationsfähigkeit erweitern, in dem wir Kontakt haben mit Menschen, von denen wir viel lernen können und für die wir die Anderen sind.

Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein, sollte nicht Grundlage für einen Werbespruch eines Drogeriemarktes sein, sondern ein Lebensgefühl der Menschen unserer Stadt.

Wenn Mercer 2010 Wien wieder zur lebenswertesten Metropole der Welt erklärt, so kann das auch eine Verantwortung der Stadt ihren BewohnerInnen gegenüber im Bezug auf Partizipation darstellen. Ebenso das Ranking Österreichs unter den zehn reichsten Ländern der Welt. Was wären bessere Voraussetzungen dafür, die Utopie zu leben?

Vor ca. zwanzig Jahren war der Kommunikationsphilosoph Villém Flusser bei den Wiener Vorlesungen zu Gast. In der dazu vorliegenden Publikation sagt er: «Die Stadt ist eigentlich kein Feld der Aktivität, sondern der Passivität. Die Stadt ist kein Ort, wo gehandelt wird, sondern wo gelitten wird. Ich glaube Handeln ist immer eine Sache des Landes, des Dorfes.»

Mit der Erklärung der Invalidenstraße zur Invalid Street machen DanceAbility und das Tdu einen Anfang zu einer Wahrnehmungsveränderung für eine Qualitätsverschiebung von der Stadt zum Dorf, bei der alle eingeladen sind, sich zu beteiligen. Wenn in Bezug auf Straßenumbenennungen mit der damit einhergehenden aufwendigen und kostenspieligen administrativen Arbeit argumentiert wird, so argumentieren wir mit einer Investition in die Zukunft, die sich langfristig positiv auf das Lebensgefühl, das Herz und den Intellekt der BewohnerInnen der Stadt auswirken kann und die dazu einlädt, kreativ-gestalterische Ressourcen zu verlebendigen, die in uns allen schlummern und die wir gemeinsam zelebrieren sollten!

Am 28. Mai soll ein Umzug die Stadt zum Dorf machen, wo jedeR jedeN sieht, das nicht Vorstellbare vorstellbar wird, die Langsamkeit und die Vielfalt eingeladen sind, ein Fest der Sinne als Kundgebung für diese Fragen, die uns alle betreffen. Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!

Infos:

Invalid Street Prozession

Samstag, 28. Mai

Beginn: ab 13 Uhr vor der Otto-Wagner-Postsparkasse

Ende: 16 Uhr am Karl-Borromäus-Platz

Invalid Street Projektwoche

23. bis 28. Mai

http://invalidstreet.wordpress.com

Sonstige Veranstaltungen

* Performance DanceAbility, FLORA, Donnerstag, 26. Mai, 20 Uhr, WUK, im Flieger

* Internationale Podiumsdiskussion, Kunst für Sozialen Wandel von VIDC, Dienstag, 24. Mai, WUK

* «InExActArt. Handbuch zur Praxis des Theaters der Unterdrückten»: Birgit Fritz stellt ihr Buch vor; dazu Bilder- und Improtheaterszenen. Freitag, 3. Juni, 20 Uhr, Arena Bar, 1050, Margaretenstraße 117

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