ErdbebenDichter Innenteil

Illustration: Carla Müller

Die Abenteuer des Herrn Hüseyin (März 2023)

Es ist gegen halb sieben in der Früh am 6. Februar 2023. ­Hüseyin steht vor seinem Wecker auf. In letzter Zeit steht er öfters auf, bevor der Wecker läutet. Als Erstes macht er sich ­einen ­Kaffee, um wach zu werden. Nebenbei läuft das ­Radio. Er hört nur Ö1. Die erste Nachricht ist das Erdbeben in der Türkei und in ­Syrien. Und zwar ganz in der Nähe, wo die Eltern von ­Hüseyin zu ­Hause sind. Es sind die elf Städte in der Region der Türkei, wo Kurd:innen ­leben. ­Hüseyin ruft die Schwester an und anschließend den Vater. Um vier Uhr herum steht sein Vater auf und geht aufs Klo. Als er ­zurückkommt, sieht er, wie die Lampen sich hin und her bewegen. Vor zwei ­Jahren gab es in dieser Stadt ein Erdbeben, wo sehr ­viele Menschen ­starben und viele Gebäude zerstört wurden. Er weckt die seit Jahren mit ­Zuckerkrankheit kämpfende Mutter Hüseyins auf. Der Vater bald neunzig und die Mutter über achtzig Jahre alt. Sie beeilen sich, schnell draußen zu sein, während ihr Haus hin und her wackelt. Die Schwester Hüseyins meldet sich auch nach einer Stunde mit ihren Kindern. ­Hüseyin ist zwar erleichtert, dass es seiner Familie gut geht, aber er hat sehr viele Freund:innen aus der Region in Wien. Das Epizentrum des Bebens ist in Maraş. Er ruft diese Freund:innen an. Viele wissen nicht, wie viele Verwandte sie verloren haben.
Die ersten Bilder und Videos, die von Privatpersonen über Soziale Medien veröffentlicht werden, zeigen die Dimension der Katastrophe. Nur staatliche türkische Nachrichtenagenturen, die unter der Kontrolle der regierenden Partei sind, dürfen als Erstes in der Türkei von der Katastrophe berichten. Alle haben dort Handys, aber die GSM-Stationen der Telefonanbieter sind auch zerstört. Das Ausmaß des Erdbebens kommt langsam ans Tageslicht. Es wird eine Nachrichtensperre von der Regierung verhängt. Es sind elf Städte, jede mit mehr als einer Million Einwohner:innen, die davon sehr stark betroffen sind. Sogar Häuser, die vor kurzem gebaut wurden, haben dem 7,7-Wert auf der Richterskala nicht standhalten können. Wie ein Kartenhaus sind sie zusammengebrochen. Die Zentren dieser Städte ähneln einem Schutthaufen. Man hat bei der Stadtentwicklung in so einer Erdbebenregion nicht darauf geachtet. Die fruchtbaren Täler wurden für den Bau der mehrstöckigen Häuser geopfert.
Das anzahlmäßig zweitgrößte Nato-Land Türkei (575.000 aktive Soldaten, 280.000 Reservisten) schickt am ersten Tag seine Soldaten nicht in das Katastrophengebiet, sondern setzt seine Militäraktionen in kurdischen Teilen im Irak und Syrien fort. Durch den öffentlichen Druck kommen sie ab dem zweiten Tag in der Region zum Einsatz. In ­diesen Gebieten sind auch viele Regierungsbauten zum Einsturz ­gekommen. Es gibt keine staatlichen Einrichtungen, an die sich Überlebende wenden können. Viele Menschen konnten unter den Trümmern nicht ­gerettet werden. Die Regierung findet schnell die Schuldigen. Es sind die Baumeister:innen. Dass die Kontrolle der Bauten beim Staat ist, wird von ihr schnell vergessen. Wegen der Hetzjagd auf die Baumeister:innen wollen manche von ihnen schnell das Land verlassen. Die Festnahmen derer werden in TV-Sendungen als Erfolg verkauft. Seit dem Erdbeben 1999 in Izmit in der Nähe von Istanbul, wurde eine Erdbebensteuer eingeführt. Was mit diesen Steuern passiert ist, dazu gibt die über zwanzig Jahre regierende Partei AKP keine Antworten.
Die ersten Tage nach dem Erdbeben verbringen die Eltern und ­Geschwister Hüseyins in höher gelegenen Gebieten der Stadt.

Bald kommt der Frühling, ohne dass es viel geschneit hat.
Ihr Hüseyin