Erlesenes fürs Bürovorstadt

Gschäftl-Report (7. Folge)

Vier Papierfachgeschäfte gab es bis vor Kurzem in der Gumpendorfer Straße. Alle vier haben keine Nachfolger_innen gefunden. Drei haben zugesperrt.

Nur Frau Kreuziger, die Besitzerin von Erika Papier, will noch nicht aufhören.

Von Arthur Fürnhammer (Text) und Mario Lang (Fotos)

Man wird ja wohl noch träumen dürfen: Mitten in der Gumpendorfer Straße liegt Wiens Papiermeile. Seit Jahren schon haben Wiens Papierfachgeschäfte traditionell hier ihren Sitz, und jedes Jahr werden es mehr. Der Trend der Wiener_innen zum Schreiben, zur kreativen Beschäftigung mit Papier in all seinen Facetten, von Expert_innen als analoger Gegenentwurf zur wachsenden Zahl an elektronischen Kommunikationsformen gedeutet, findet hier seinen Niederschlag. Weil auch der konjunkturelle Höhenflug dank staatlich gelenkter Maßnahmen der gesamten Bevölkerung zugutekommt, wird den bisher ansässigen Goldscheideanstalten zunehmend die Geschäftsgrundlage entzogen. Lediglich ein einziger Goldhändler hat noch nicht das Handtuch geworfen. Aus der Goldmeile ist so in den letzten Jahren die Papiermeile geworden.

Die Realität sieht, nüchtern betrachtet, leider anders aus. Vier Papierfachhändler gab es vor nicht allzu langer Zeit noch allein in der Gumpendorfer Straße. Nur ­Erika Papier, mitten in der Goldmeile gelegen, hat noch nicht das Handtuch geworfen.

Genauer gesagt ist es Frau Brigitte ­Kreuziger, die noch die Stellung hält. Es ist nur eine Frage der Zeit, vielleicht von ein paar Jahren, bis auch Erika Papier Geschichte ist und die Gumpendorfer_innen ihre Schreib­utensilien entweder bei der Post oder beim Papierdiskonter in der Mariahilfer Straße kaufen müssen. Die Besitzer_innen der drei anderen Papiergeschäfte sperrten zu, weil sie in Pension gingen und keine Nachfolger_innen fanden. Auch die 70-jährige Frau Kreuziger, die das Geschäft vor 20 Jahren übernommen hat und selbst seit zehn Jahren in Pension ist, hat schon versucht, sich ihre gesamte Ware abkaufen zu lassen. Doch ohne Erfolg. Dass sie ihren Warenbestand nicht schon längst verramscht hat und in den wohlverdienten Ruhestand getreten ist, hat mehrere Gründe: Zum einen ist die Vorfreude auf Hobbys, zu denen man vielleicht nie gekommen ist, enden wollend, wenn man die Arbeit eigentlich immer lieber gemacht hat als jedes Hobby.

«Mei Hobby? Des war’s Gschäft.» Außerdem schätzt die Geschäftsfrau den Umgang mit ihren Kund_innen und das positive Feedback, das sie von diesen bekommt. Wenn man gern kommuniziert und das alles von einem Tag auf den anderen ausbleibt, fällt man in ein Loch, weiß Kreuziger. Ein bisserl Angst vor dem Ende des Arbeitslebens? Ja, ganz sicher. «Den ganzen Tag auframa wird a bisserl langweilig werden.»

Einen Oscar erhalten.

Kreuzigers Stammkund_innen werden es ihr also danken, wenn sie noch einige Jahre anhängt. Mit einigen haben sich mit der Zeit enge persönliche Kontakte entwickelt. Wenn Kreuziger einmal einen Nachmittag wegen eines Arztbesuchs oder eines Behördenwegs zusperrt, kommt es nicht selten vor, dass sich Kund_innen am nächsten Tag erkundigen, ob alles mit ihr in Ordnung ist. Es sind dieselben, die dann auch jeden Sommer fragen, wann Frau Kreuziger ihre drei Wochen Urlaub nimmt, damit sie vorher noch alles rechtzeitig besorgen können. Einen handfesten Beweis für die Bindung der Kundschaft zu ihrer Papierspezialistin hat Kreuziger auf Augenhöhe in einem Regal stehen: Vor eineinhalb Jahren bekam sie von einer Kundin einen Oscar verliehen. «Weil ich immer so nett bin.» Auf der Plakette steht zu lesen: «Erika Papier, Erlesenes fürs Büro».

Weil manche Stammkund_innen so oft kommen, könnte man leicht den Eindruck gewinnen, Kreuziger betreibe in Wahrheit eine Greißlerei und kein Papiergeschäft. Ganz so falsch ist das aber nicht. Denn – und hier ist der Geschäftsname Erika Papier etwas euphemistisch – Kreuziger verkauft nicht nur Papier in all seinen Ausformungen, sondern bekanntlich auch Gegenstände, mit denen man Papier beschreiben, bedrucken, zerschneiden, vervielfältigen, ordnen, heften, kleben und vieles mehr kann. Und in diesem Sinne ist Kreuziger sehr wohl Greißlerin, aber nicht für den Magen, sondern für die Hände und den Kopf.

Deshalb lieben Schulkinder auch Papierfachgeschäfte. Wenn mit dem Schulanfang die Zeit des reinen Spielens vorbei ist, erhalten sie hier ihre ersten Arbeitsgeräte. Und diese sind, dem beginnenden Ernst des Lebens entsprechend, wichtig und schön zugleich. Welches Kind gibt sich nicht bei jedem neuen Schulheft die größtmögliche Mühe, besonders schön zu schreiben. Und welches Kind ist nicht voller Stolz und Freude über die erste Füllfeder.

Doch nicht nur Kinderherzen schlagen beim Betreten eines Papierfachgeschäfts heute wie früher höher. Auch der Kindheit bereits Entwachsene werden in Geschäften wie Erika Papier gelegentlich vom Wunsch übermannt, sofort alles kaufen zu wollen, weil man doch eigentlich alles gut brauchen könnte, obwohl man im Grunde nur gekommen ist, um einen Tixo zu kaufen.

Reiseset inklusive Kompass.

Im Falle von Erika Papier wird dieser besondere Eindruck verstärkt durch die räumliche Enge des Geschäftslokals. Man könnte das Geschäft in den Worten der Besitzerin auch als «vollgeräumt» bezeichnen. Das liegt eben daran, dass das Sortiment breit gefächert ist und Waren geführt werden, die mit Papier oft nur am Rande, wenn überhaupt etwas zu tun haben. Natürlich gibt es Papier in allen Stärken und vor allem auch Schreibgeräte in allen Farben und Designs. Wer will, findet aber auch Zirbenholzspäne (zur Entspannung), Billets für alle denkbaren Anlässe, Schultaschen, Pack-, Geschenks- und Weihnachtspapier, Zeichenblöcke, Leerschachteln in diversen Größen, Sudoku-Klopapier, Luftballons, Plüschtiere als Schlüsselanhänger und Plüschtiere ohne Schlüsselanhänger, Sparschweine in allen Farben, Jahreskalender, Gesellschafts- und Mitbringspiele, Kinder-, Tage- und Freundschaftsbücher, saisonale Produkte wie Sandspielzeug, Bastelhilfen für Adventskalender und Adventkränze, Nikolosackerl und Dinge, von denen man gar nicht gewusst hat, dass es sie gibt, wie ein Schreibset für Reiseschriftsteller_innen, Kompass inklusive.

Noch hat Kreuziger Stammkund_innen genug. Viele aber hat sie in den letzten Jahren verloren. Die ältere Generation ist entweder tot oder im Altersheim. Und jene, die einst als Kinder kamen, haben entweder selbst noch keinen schulpflichtigen Nachwuchs oder haben zwar Kinder, sind aber an den Stadtrand verzogen. Die einschlägigen Papierdiskonter empfindet Kreuziger nicht als Konkurrenz, denn die hätten nur Billigware mit schlechter Qualität. Ihre Kund_innen wüssten, dass es bei ihr nicht Papier aus China gebe, bei dem man die Tinte auf der Rückseite sieht. Außerdem wäre vielen die Beratung wichtig, und die gebe es beim Diskonter nicht.

Warum der Umsatz vor zehn Jahren noch ein ganz anderer war, hat aber noch einen ganz anderen Grund, und der heißt Diddl Maus. Von dieser gab es: Hefte, Spitzer, Bleistifte, Schultaschen, Federpennale, einfach alles. Jahrelang hätten die Fachgeschäfte von der Diddl Maus sehr gut gelebt, weiß Kreuziger. Vor sieben Jahren hat sich das Phänomen dann erschöpft, ohne dass es eine ähnlich zugkräftige Marke aufgetaucht wäre.

Keine Erika.

Doch jede Zeit hat ihre Moden. Heute kaufen die Leute Ausmalbücher. Nicht nur für Kinder, sondern auch für deren gestresste Eltern. Was wohl die namensgebende Erika zu derlei Trends gesagt hätte? Auch in dieser Hinsicht ist der Geschäftsname ein Euphemismus. Denn wer jene Erika war und wann sie das Geschäft gegründet hat oder ob sie gar die Muse des Geschäftsgründers war, verliert sich im Dunkel der Geschichte. Brigitte Kreuziger weiß nur, dass zumindest ihr beiden Vorgängerinnen nicht Erika geheißen haben und das Geschäft damit jedenfalls über 60 Jahre alt sein muss.

Ein Kunde betritt das Geschäft. Er hätte gern Glasschreibstifte, und zwar die gleiche Stärke wie beim letzten Mal. Das weiß Frau Kreuziger leider nicht mehr. So einigt man sich auf fünf Stück mittlerer Stärke. Nachdem der Kunde bezahlt hat, fragt Kreuziger: «Woin’S a Sackerl oder geht’s so?» Der Kunde: «Ich ess‘ es gleich.» Kreuziger: «Sie essen’s gleich. Dass ma heite ned verhungern!»