Erleuchtung am LichtbildArtistin

Analoge Fotografie im Experimentalverfahren. Seit Mitte der 1990er-Jahre betreiben drei Berliner Künstler die «Schlomographie». Die Apparate sind selbstgebaut, die Sujets vom anderen Ende des bürgerlichen Porträts.

TEXT: Barbara Eder

Schlomographie ist eine fröhliche Wissenschaft – und als solche hat sie mehr als einen Ursprung. Einer ihrer Erfinder ist überzeugt davon, dass alles im Berliner Arbeiter_innenbezirk Wedding begann, die anderen beiden favorisieren eine abweichende Erzählung. Mit einem veritablen Sturm auf die Bastille hätte es angefangen, meint Charly Paps und gibt sich damit keineswegs bescheiden. Gemeinsam mit George Große hat er die «Schlomographische Aktion Berlin» begründet, Olf Engelbrat kam ein Jahr später hinzu. Damals eröffnete in der Oranienburger Straße 34 ein Depot der Lomographischen Gesellschaft, die Wackelbild-Optik der sowjetischen Kleinbildkamera wurde eben erst wiederentdeckt. Das Authentizitätsverdikt hinter dem Hipster-Spielzeug war George und Charly ein Dorn im Auge. «Jedem HOMO eine LOMO», heißt es im Schlomographischen ­Manifest, gezeichnet von der dazumal noch im Untergrund agierenden «Gaysellschaft öffentlichen Aufruhrs». Während der Lomo-Vernissage am 8. Juni 1996 riefen sie zum Kampf gegen die «Regeln der biederen Lichtbildnerei» auf – mit «geputzter und geladener Waffel», Marke: Eigenbau.

Lebkuchen-Kamera.

Schlomographen konstruieren ihre eigenen Apparate, abgelichtet wird niemals Augenblickseindruck, sondern immer Arrangement. Manchmal fotografieren sie im Alleingang, öfters aber im Kollektiv. Ihre öffentlichen Aktionen unter Miteinbeziehung des Publikums wollen sie auch als «Maßnahmen» verstanden wissen: gegen gesellschaftliche Heteronormativitätsgebote und ihre Bilder, aber auch gegen die Tristesse des Großstadtalltags. Geknipst wird in Talaren, Kochschürzen, Arztkitteln oder mit roten Clownnasen – die jeweilige Verkleidung bestimmt den weiteren Verlauf der Aktion. «Durch Schweinelinsen schlomographiert, kann jeder eine coole Sau sein!», lautete etwa das Motto einer der letzten Maßnahmen beim Lesbisch-schwulen Stadtfest. Vor Ort hielten Charly, George und Olf mit ihrer selbstgebackenen Lebkuchen-Kamera nicht etwa nach einer Ästhetik des Naturschönen Ausschau; im Okular entdeckten sie stattdessen Schwein und Zeit. Das «Gelar» – eine aus Wackelpudding bestehende, essbare Photo-Linse mit Brechungsindex – gibt es seither in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen, selbstverständlich aber auch geschmacklos.
Vor dem schlomographischen Objektiv verkehren sich nicht selten Proportionen, der Goldene Schnitt wirkt dann wie eine vernachlässigbare Restgröße aus der Renaissance. Wir dreh’n Sie um war demnach auch der Titel einer der ersten Ausstellungen des experimentierfreudigen Trios. Im Schöneberger «Café Daneben» präsentierte die Schlomographische Aktion Berlin im Oktober 1998 eine Sammlung von Bildern in Schwarzweiß, in ihnen schien die Schwerkraft schier aufgehoben. Durch ein selbstgebautes «Cameraphon» mit Telefonwählscheibe hat Charly Paps die Rückwärtsrolle eines Freundes fotografiert, zeitgleich zog diese jedoch auch ein Vorwärts nach sich. Die Bodentruppenübung endete im unvorhersehbaren Seitensprung, er passierte nicht hinter dem Auslöser, sondern mitten im Labor. Auf den bislang unbemerkten Dunkelkammer-Effekt hatte Charly Paps erst ein Ausstellungsbesucher hingewiesen. Wie das Bild vom verkehrten Purzelbaum in zwei Richtungen entstanden ist, kann Charly bis heute nicht genau sagen; ein «gaynau» muss dafür vorerst ausreichen: Während die Welt vor der Rollfilmkamera sich weiterbewegte, wurde das Negativ drei Sekunden lang durch einen Schlitz belichtet; das im Bild bewegte Modell war nur dem Anschein nach seiner Zeit voraus – dem Überholmanöver folgte ein jäher Blick zurück.

Offene Experimente.

Den Namen Barbara Streisand kann man bekanntermaßen unterschiedlich aussprechen, sie «Schtreisand» nennen oder auch «Streiseeend»; in schlomographischer Gesellschaft wäre ihr Erscheinen wohl von einem lautstarken «Streusand» begleitet – eine Betonung, in der etwas zutiefst Queeres steckt. Noch bevor sie sich neue Namen gaben, haben Harald Hoffmann, Thomas Große und Rolf Engelbart einander im schwulen Fotoclub «MannSbilder e. V.» kennengelernt. Thomas Große hat sich den Vornamen eines ehemaligen amerikanischen Präsidenten zugelegt, angeregt durch dessen Turtel-Dialoge mit Helmut Kohl. Harald Hoffmann nahm die Anfangsbuchstaben seines Funker-Kürzels: Aus dem «P» in «CP», das anfangs für «Papa» stand, hat sein Freund ein amikales «Paps» gemacht. In einem Anflug von hüpfenden Buchstaben wurde zuletzt auch aus Rolf Engelbart ein «Engelbrat» – und ein Olf obendrein. Auch wegen dem «Ü» in «Sürrealismus». Und dem Schwindel einer spontanen Sinnesverwirrung.
In Vorbereitung jeder schlomographischen Aktion kollidieren Kunst-Zitate mit Quantifizierungsskalen, sie beginnt fast immer im offenen Experiment. Zum einen ist da die profane Magie von Entwickler und Fixierer, im Labor werden Belichtungszeit und Fotopapier stets aufs Neue aufeinander abgestimmt. Die Materialität des Mediums fördert nicht zuletzt auch Ungesehenes zutage, bedeutsam wird es erst vor dem Vergrößerungsapparat. Obgleich aufwändig in der Bearbeitung, ist das Analoge für Schlomographen bis heute attraktiv – im Produktionsprozess gelangen sie zu neuen Erkenntnissen über sich und ihre Apparate. Oft bestehen diese aus historischen Fundstücken, operieren mit russischer Weitwinkeloptik, Polaroid-Sofortbildmechanismus oder medizinischen Peripherie-Geräten. Selbst Lissajou-Figuren – Kurvengraphen aus der Physik – wurden in Charlys Technologieschmiede schon auf Fotopapier gebannt, mithilfe eines «Schlomoscills» gelang die Visualisierung von vorab vermessenen Herzfrequenzen von Paaren.

How do I look?

Am Ende betreten alle Beteiligten Neuland – mit Pässen, Gutachten und Urkunden, handsigniert und mit Schlomo-Stempel. Die Porträts darin sind nicht biometrisch vermessen, sondern psychedelisch verzerrt, von batiktuchähnlichen Farbmustern umgeben oder gleich ganz neu zusammengesetzt. Dank «Auroskop» oder «Multimomentexponator» zeigt sich manchmal sogar ein Halo-Effekt – mit Heiligenschein für die universale Instant-Erleuchtung.
Schlomos sind auch Schlemihls – und ihre Bilder niemals eindimensional. «How do I look?» ist eine Frage, die sich beim Betrachten derselben immer wieder stellt – und sie ruft stets weitere auf den Plan. Liege ich richtig oder habe ich doch etwas übersehen? Ist die Welt am Ende wirklich so verdreht oder alles nur optische Täuschung? Konventionelle Bildkolportagen begnügen sich zumeist damit, andere exotisierend vor dem Objektiv auszustellen; Schlomographen drehen den Spieß auch dahingehend gerne um und beginnen ihre ethnografischen Untersuchungen vor der eigenen Haustür.
Mit Momentaufnahmen aus dem Haushalt der knipsbegeisterten Familie Schneider, die sich selbst als «proamerika und jedenfalls Westsektor» beschreibt, fängt etwa die gleichnamige Reality-Einzelbild-Show aus dem Berliner «Problemkiez» Wedding an. Als ihre wenig älteren Schwestern noch das Tanzbein in Clubs schwangen, befanden Frau und Herr Schneider sich schon auf der Vorstufe zur Familiengründung. Ein erster Schnappschuss zeigt die Heilige Familie in Schwarzweiß vor handkoloriertem Weihnachtsbaum – entwickelt auf glatt gebügeltem Butterbrotpapier mit fein ziselierter Tortenspitze. Baby Schneider ist Thomas Große wie aus dem Gesicht geschnitten, und Mutter Schneider sieht Rolf Engelbart verblüffend ähnlich; am Ende buhlen beide um die Aufmerksamkeit eines jugendlichen Santa Claus in viel zu engen Shorts. Jede Schlomographie hat eben zwei Ursprünge – und am Ende ist in diesen unverschämt entartigten Lichtbildern nicht einmal das Geschlecht noch eins. 

Auf dieser Seite: Die knipsbegeisterte Weddinger Familie Schneider vor nachkoloriertem Weihnachtsbaum
Foto: © Schlomographische Aktion Berlin
www.schlomographie.de

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