Ernst Pacolt und die Idee der gemäßigten KleinschreibungArtistin

Gott & die lieben Genossen

Die Freizügigkeit der AUGUSTIN-Redaktion in Sachen Rechtschreibung ist legendär. Neben der reformierten, neuen Rechtschreibung wird nicht nur das alte Regelwerk toleriert, sondern auch jedes originelle individuelle Experiment abseits jeder Regel. Wenn unser Lektor urgiert, zumindest innerhalb eines Textes keine Mischkulanz von alter und neuer Rechtschreibung zuzulassen – geschenkt. Wenn aber einer hergeht und sagt, die Rechtschreibreform zerstöre die deutsche Kultur, vergessen wir unsere Gelassenheit. Dann geht uns das Geimpfte auf, und flehentlich wenden wir uns an einen eben Verstorbenen: Ernst Pacolt, steige aus deinem Grab und vaporisiere das Barock!Ernst Pacolt starb am Tag der Sonnenfinsternis, am 11. August 1999, kurz nach Vollendung seines 87. Lebensjahres. Er war der österreichische Delegationschef in der internationalen Rechtschreibreform-Kommission. Ihm ist aber am allerwenigsten anzulasten, dass die neue amtliche Regelung (übrigens die erste Reform seit 1902) so kompromisslerisch ausfiel. Ernst Pacolt stand für das Konzept der gemäßigten Kleinschreibung. Die meisten Mitglieder der österreichischen Delegation unterstützten ihn. Auch die Schweizer. Selbst viele deutsche Sprachwissenschaftler favorisierten bei den Reformgesprächen die gemäßigte Kleinschreibung: Groß werden nur die Satzanfänge und die Eigennamen geschrieben. Der Hauptwiderstand kam von einigen deutschen Kultusministerien. So scheiterte das Projekt der Kleinschreibung.

Es scheiterte am langen Atem des Barock, könnte man sagen. Seit der Barockzeit wird großgeschrieben, allerdings gab es lange Zeit keine strikten Regeln für die Groß- und Kleinschreibung der Wörter. Großgeschrieben wurde einfach das wichtigste Wort im Satz, also durfte Kaiserin Maria Theresia ohne Angst vor Regelverstoß hinkritzeln: „Meine tochter ist Schön“. Später wurde die Großschreibung der sogenannten Hauptwörter zur Regel – eine Regel, die keine andere Sprache mehr kennt, seit Dänemark im Jahr 1948 die Großschreibung abschaffte.

Der Wiener Lehrer, Lehrbuchverfasser, Sprachforscher und Sprachreformer Ernst Pacolt hatte gegen jedes „Argument“ seiner konservativen Reformgegner eine angemessene Munition. So ätzte er gegen die „Schriftbildbewahrer“:

Die verfechter der grossschreibung handeln oft wie weiland der Völkische Beobachter: Sie stellen behauptungen auf, für die sie jeden beweis schuldig bleiben, und wiederholen sie dann bis zum überdruss … z. b. die, dass das schriftbild nur durch die grossschreibung der hauptwörter im notwendigen ausmass gegliedert würde. Dabei tut man ganz so, als wären die kleinbuchstaben wirklich klein und die grossbuchstaben wirklich die grossen buchstaben in unserem alfabet. Auf den sehr naheliegenden gedanken, die entsprechenden gross- und kleinbuchstaben gegenüberzustellen, kommt man offenbar nicht … Von den 26 buchstaben unseres alfabets haben 12 kleinbuchstaben ober- oder unterlänge, sind also in der gliederungsfähigkeit den grossbuchstaben ebenbürtig … und ein kleinbuchstabe, nämlich das f, verfügt in der schreibschrift sogar über ober- und unterlänge, ist also der grösste buchstabe unseres alfabets. (E. Pacolt, 1965).

Was hat Ernst Pacolt sich in den fünf Jahrzehnten, in denen er für die Reform focht, alles an Nonsense-Argumenten anhören müssen! Die kulturpolitischen Folgen einer Kleinschreibung seien katastrophal, „weil die gewaltigen Reservoire unserer Bibliotheken umgedruckt werden müssen… Wer wohl wird den Umdruck unseres gesamten gedruckten Traditionsbestandes bezahlen?“ (FAZ vom 7. 3. 1973). „Die Linke“ würde mit der Kleinschreibung den Halb-Analphabetismus einführen: „Die Faulen und Blöden jubeln, weil sie nicht mehr lernen müssen, was großgeschrieben werden muß“ (Welt am Sonntag, 31/1973). Dazu all die Jahrzehnte hindurch (bis in die österreichische Massenmediengegenwart hinein) massenhaft Reformtotschläger vom Typ „ich habe liebe genossen“…

Placolt hat sich sehr geduldig mit solchen Argumenten auseinandergesetzt. Haben etwa 1902, nach Einführung der bis vor kurzem geltenden Rechtschreibkonvention, die deutschen Bibliotheken ihre Bestände einstampfen müssen? Geht nicht aus dem Zusammenhang, in dem auch immer der zitierte Satz steht, eindeutig und klar hervor, ob die Liebe genossen wurde oder ob es sich um liebe Genossen handelt?

Trotzdem, diese Reformtotschlagargumente entfalteten Macht, und zum Schluss akzeptierte der Wiener Sprachreformer, dass die Zeit wohl immer noch nicht reif für die gemäßigte Kleinschreibung ist. Überhaupt, er muss ein sehr gelassener Mensch gewesen sein. „In einer Phase, als in der internationalen Kommission noch über ein etwaiges Regelwerk der Kleinschreibung gestritten wurde, forderten die Vertreter Bayerns, dass man Gott – obwohl eigentlich kein Eigenname – groß schreiben müsse. Mein Vater wird bloß geschmunzelt haben: Für einen kleingeschriebenen Gott ging er ganz gewiss nicht auf die Barrikaden, obwohl er doch eigentlich ein Atheist war“, erinnert sich Sohn Udo Pacolt im AUGUSTIN-Gespräch.

Udo Pacolt weiß viele Anektoten über seinen Vater zu berichten. Z. B. die Auberginen-Anektote. Die deutschen Mitglieder der internationalen Rechtschreibkommission diskutierten eines Tages die eventuelle Eindeutschung des Wortes Aubergine: mit O statt Au. Man konnte sich nicht einigen und fragte die Schweizer Delegation. Diese blockte höflich, aber bestimmt ab und wies darauf hin, dass die Schweizer Bevölkerung mehrsprachig sei und die französische Schreibung problemlos beherrsche. Daraufhin wandten sich die deutschen Fremdwortvergewaltiger hilfesuchend an den Österreicher Pacolt. Der aber konterte schmunzelnd: „Da kann ich Ihnen leider auch nicht helfen, wir sagen Melanzani dazu.“

Diese kleine Geschichte verweist auf das zweite Lebenswerk Ernst Pacolts: an seine langjährige, prägende Mitwirkung an der Herausgabe des Österreichischen Wörterbuchs. Dass dieses heute von vielen Austriazismen bevölkert ist, die man früher als angebliche Dialektausdrücke aus der Schriftsprache auszugrenzen versuchte, ist ein Verdienst von Pacolt.

Als er 1992 des Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst erhielt, war er einer der wenigen Honorierten, die Wissenschaft und Kunst tatsächlich in einer Person vereinigten. Unter Herbert Boeckl und anderen studierte er in den 30er Jahren an der Akademie der bildenden Künste in Wien und schuf in der Folge eine Reihe von Bildern, Fresken und Buchillustrationen. Ab den 50er Jahren entfernte er sich zusehends von der „Gefühlswelt“ der Farben, um in die „Vernunftswelt“ der Orthografie einzutauchen. Dass auf diesem Feld, auf dem – wie er glaubte – das rationale Argument zu seinem Recht kommen sollte, sich dann jahrzehntelang der Kulturkampf der Emotionen gegen die „Proletarisierung der Schrift“ (Hans Habe in der „Welt am Sonntag“ 31/1973 über die „drohende“ Kleinschreibung) erhitzte, hat ihn nicht aufgeben lassen. Bevor Ernst Pacolt starb, muss er gewusst haben: Bezüglich der kleinschreibung ist das letzte wort noch nicht gesprochen.


Die Österreichische gesellschaft für sprache und schreibung, deren Präsident Ernst Pacolt war, gibt die Zeitschrift „tribüne“ heraus, die zum Jahrespreis von öS 200,- abonniert werden kann: Bestellungen an Richard Schrodt, Klederinger Str. 69/9, 1100 Wien. Tel & Fax 688 72 28. E-Mail: richard.schrodt@univie.ac.at

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