Erwin Riess (1957 – 2023)News

Erwin Riess fotografiert von Carolina Frank

Die Streuwarenhandlung eines Unbeugsamen

In der Gaststube saßen drei Greise (…) Ich lockerte den Gürtel meiner Hose, zog die Bremse des Rollstuhls an und ­tauchte ein Stück Brot in die brennheiße Suppe (…) Ich machte nun Bekanntschaft mit der schärfsten Halászlé, die je meine Mundschleimhäute berührt hatte; für einen Moment befürchtete ich sogar eine Verätzung des Gaumens. Verstohlen schaute ich mich um und sah, dass die Alten, einer nach dem anderen, die weiße Blechschüssel an den Mund setzten. Ich versuchte, mit ihnen mitzumachen, was schließlich auch gelang, aber nur deshalb, weil die drei auf mich Rücksicht nahmen und langsam aßen. (…) Wenig später erschien der Kellner mit einer Rechnung über vier Fischsuppen.»
Erwin Riess war ein unermüdlicher Verprasser, Verpulverer von Anekdoten dieser Art, die gelassen wie Wackelsteine im Waldviertel oder wie in der Wiese liegende Kühe das Gesamtwerk von Riess würzen und meist ganz für sich stehen, ohne Beziehung zum Haupterzählstrang seiner Romane. Dass sich die Saga über die beste Fischsuppe der Welt, verortet im Zwickel der Flüsse Bodrog und Theiß, verselbständigte, war von Vorteil für die Literaturveranstalter. Sie konnten so, wenn sie wollten, bei jeder Präsentation eines neuen Riess-Romans mit Fischsuppe überraschen (oft kochte sie der Autor selber).
Es soll Riess-Fans geben, die bei der Lektüre von Romanen ihre Aufmerksamkeit den Geschichten in der Geschichte widmen und aus Gründen, die wahrscheinlich im Deutschunterricht der Schulen liegen, nicht den geringsten Ehrgeiz haben, einen Roman von vorne nach hinten zu lesen. Sie konzentrieren sich stattdessen auf die Streuware, die das relativ enzyklopädische Wissen des Autors in seiner ganzen Breite und ­Tiefe widerspiegelt. Das ist dann keine Literatur mehr, sondern Pädagogik, jammern andere, die es mit Marcel Reich-Ranicki halten: Ein Buch sei Narration und keine Plattform für Gedanken, sagte dieser sinngemäß.
Es war rückblickend eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass E­rwin Riess vom Augustin-Kollektiv zur ständigen Mitarbeit ­eingeladen wurde. Es war ein Glücksfall für den Augustin, so ­jemanden zu kriegen. Die Ganzheit unseres Straßenzeitungsprojekts ergab sich aus dem unbesiegbar scheinenden Gefüge, das von einer Crew ­einfühlsamer Sozialarbeiter:innen plus einer ­Riege furchtloser Text­arbeiter:innen ­bewerkstelligt wurde, aber Erwin vereinigte ­alles in ­einer Person. Die Lust an der Sprache und das Kribbeln der Rebellion.
Achtzehn Jahre lang schrieb ­Erwin Riess regelmäßig für den ­Augustin. Vor seiner Verspieltheit zog ich den Hut. Er erläuterte mir den Sinn des «Ständigen Ausschusses zur Klärung sämtlicher Welträtsel», den er mit Freunden beim Binder-Heurigen gegründet hatte. Der Ausschuss legitimierte ­ständige Heurigenbesuche. Noch öfter zog ich den Hut vor seiner Rigorosität als intellektueller Aktivist der Behin­dertenbewegung. Seit zwei Jahren selber den Rollstuhl gebrauchend, reizt es mich, die stärksten Leute aus dem Publikum des Perinetkellers herbeizurufen. Es ist jedes Mal ein performativer Bahö im Keller, wenn wir die gefährlichen Stufen bewältigen. Den Erwin hab ich nie dazu bewegen können, im ehemaligen Aktionistenkeller aus seinen Büchern zu lesen. Erwin ließ in seinem Kampf um Barrierefreiheit keinerlei Kompromisse gelten.
Als ich ihn zum letzten Mal in einem Lokal ohne Stufen traf, fragte ich ihn, wie viele Welträtsel der Ausschuss schon lösen konnte? «­Keines», war die Antwort.