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Wie gehts? Es geht so. «Bei uns in Jerusalem geht man immer ein wenig wie ein Trauernder bei einer Beerdigung oder wie jemand, der verspätet einen Konzertsaal betritt. Zunächst setzt man tastend die Schuhspitze auf, um vorsichtig das Terrain zu sondieren», lese ich bei Amos Oz. «Aber in Tel Aviv! Die ganze Stadt ist ein einziger Grashüpfer. Die Menschen springen vorbei und die Häuser und die Straßen und die Plätze und der Meereswind und die Dünen und die Alleen und sogar die Wolken am Himmel.»Es geht sich unterschiedlich auf der Welt. In Europa geht man im Norden etwas schneller, im Süden ein wenig gemächlicher. Manchmal geht es gut, manchmal geht es schnell, manchmal geht es auch zu Ende. Und manchmal geht es sich nicht aus. In größeren Städten gehen die Menschen tendenziell schneller als in kleinen Städten. Ausnahmen bestätigen die Regel. Wo es langsamer dahingeht, ist aber nicht gleich alles besser. In Großstädten gibt es zwar öfters Herzinfarkt und Bluthochdruck, in Dörfern aber sind die Menschen häufiger depressiv, ängstlich und unzufrieden, sagt uns die Gesundheitsforschung.
Und wer draußen vor die Tür gestellt ist, geht langsamer, egal wo. Armut und Perspektivenlosigkeit machen die Schritte müde. Die Gehgeschwindigkeit sinkt, der 300-Meter-Weg von der Wohnung zum Park wird zur einstündigen Expedition. In Marienthal der 30er Jahre mit seiner Massenarbeitslosigkeit ist das von Maria Jahoda dokumentiert worden. Oder aktueller in der (ost-)deutschen Stadt Hoyerswerda in den 90er Jahren, wo einer der geringsten Gehgeschwindigkeiten gemessen wurde, dafür die höchsten Armutsraten. Ähnlich in Flüchtlingsunterkünften. Die Zeitstruktur bricht völlig zusammen. Warten, warten, warten. Sonst ist nichts erlaubt. Da geht nichts mehr.
Okay, aber langsamer ist ja nicht schlecht bei all dem Geschwindigkeitswahnsinn, könnte man einwenden. Das ist hier aber nicht der Punkt. Es handelt es sich um eine unfreiwillige Müdigkeit, eine aufgezwungene Ohnmacht, eine aufgeherrschte Zukunftslosigkeit. Selbst gewählte Verlangsamung setzt einen Status voraus, der das Zurückschalten zur Entscheidung erhebt.
Es geht nicht immer von selbst. Und das geht uns doch was an. Wie es geht.
Buchtipp: Es reicht! Für alle! Wege aus der Armut. Deuticke Verlag