«Es geht um ein paar tausend Leute an den Schaltstellen der Macht»tun & lassen

Michael Hartmann erforscht Eliten. Ein Gespräch über alte und neue Eliten, Klassenfragen und den sozialen Sinn des Tiefstapelns.

Interview: Barbara Eder
Illustration: Silke Müller

Herr Hartmann, Sie sind Elitenforscher, Ihre Studien sind international bekannt. Was genau sind Eliten, wer kann dazu gezählt werden? Michael Hartmann: Es gibt keine ganz exakte und trennscharfe Definition des Begriffs Elite. Die, auf die sich die Elitenforschung geeinigt hat, lautet: Elite sind Personen, die in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich zu beeinflussen. C. Wright Mills hat diese Definition in den 1950ern geprägt. Demnach gehören Personen zur Elite, die qua Amt Entscheidungen treffen können, die für einen erheblichen Teil der Bevölkerung Konsequenzen haben – so etwa Regierungsmitglieder, hohe Ministerialbeamte, hohe Bundesrichter, Intendanten und Chefredakteure. Zusätzlich gibt es noch Eliten, die Einfluss qua Eigentum ausüben. In der Wirtschaft gibt es zwar Manager, die ein Amt bekleiden, die gesellschaftliche Einflussnahme ist jedoch auch ohne ein solches möglich. Wirtschaftliche Eliten sind oft Alleineigentümer eines Unternehmens oder besitzen große Anteile davon.

Spontan fallen mir da etwa die Quandt-Erb_innen ein.
Die Hälfte der BMW-Aktien gehört den beiden Mitgliedern der Familie Quandt. Diese sind damit Teil einer Elite, die in Deutschland aus ungefähr 4.000 Personen besteht, in Österreich aus 1.000, weil die Zahl nicht proportional zur Bevölkerungsstärke sinkt: Bestimmte Positionen wie Regierungs­ämter und Bundesgerichte sind auch in kleineren Ländern verhältnismäßig stark besetzt. Es geht hier, anders als oft behauptet wird, nicht um ein Prozent der Bevölkerung, sondern um ein paar tausend Leute, die an den zentralen Schaltstellen der Macht sitzen.

Und um die Entscheidungen, die sie treffen.
Gerade weil Eliten so weitreichende Entscheidungen für die Masse treffen, muss man genau darauf achten, wer sie sind und was sie tun. Historisch gesehen gibt es da große Unterschiede. Wir könnten uns natürlich auch die Frage stellen, ob Eliten und Demokratie prinzipiell vereinbar sind.

Sie arbeiten auch mit quantitativen Daten. Wie ist der Einfluss von Eliten messbar?
Einfluss kann man immer nur mittelbar messen – eine Gesellschaft kann man nicht ins Labor stecken und dann Kausalitäten feststellen, soziale Einflussnahme geht anders. Denken Sie etwa an die Entscheidungen der deutschen Bundesregierung unter Gerhard Schröder. Sie hat die Agenda 2010 mit der massiven Senkung der Sozialleistungen beschlossen und zugleich die Senkung des Spitzensteuersatzes veranlasst. Unter Bundeskanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück wurde dann auch noch die Erbschaftssteuer für Familienunternehmen faktisch abgeschafft. Das sind Entscheidungen mit erheblichen Konsequenzen. Sie lassen sich am Steueraufkommen für einzelne Steuerarten und dem Umfang der Sozialleistungen messen. Die Vorbereitungen für diese Entscheidungen – so etwa die im Vorfeld geführten Gespräche zwischen Wirtschaft, Bürokratie und Politik – bleiben aber außen vor. Wir kriegen diese Interna nicht mit, keiner lässt uns daran teilhaben.

Wer die Akteur_innen sind und woher sie kommen, spielt dabei aber eine entscheidende Rolle.
Das wichtigste Kriterium für die Entscheidungen dieser Personen – und auch dafür, ob diese einer Elite angehören werden – ist nach wie vor die soziale Herkunft. Nichts prägt Menschen so stark wie die ersten Jahre in einer Familie und der dazugehörigen Umgebung – denken Sie etwa daran, ob Sie an der Hamburger Elbchaussee in einer reichen Familie aufwachsen oder in Gelsenkirchen in einer Hartz-IV-Familie. Egal, wo Sie nachher landen – das prägt Sie tiefgreifend.

Wie weit geht dieser Einfluss?
Die soziale Herkunft hat zunächst schon mal massiven Einfluss auf Bildungskarrieren. Diese vertiefen die frühen Prägungen nochmals – dass man als Hartz-IV-Kind auf der Hauptschule landet, ist ebenso wahrscheinlich wie einen schlechten Berufsabschluss zu haben. Wenn Sie aus einer reichen Familie kommen und ins Berufsleben eintreten, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie dies ohne Universitätsabschluss tun, minimal.

Heutzutage kann man aber nicht mehr davon ausgehen, dass ein Hochschulabschluss mit einem Anspruch auf qualifizierte Arbeit verbunden ist.
Eines kann man mit Sicherheit sagen: Mit Ausnahme von Militär und Gewerkschaft ist ein Hochschulabschluss in allen Elitepositionen eine unerlässliche Voraussetzung. In den hohen Positionen in Justiz, Verwaltung, Politik und Wirtschaft finden Sie praktisch niemanden, der nicht studiert hat. Entscheidend für Berufskarrieren – insbesondere in der Wirtschaft – sind letztlich aber die Persönlichkeitsmerkmale, die mit der sozialen Herkunft verknüpft sind. Das beginnt oft schon bei den sogenannten «Fast Tracks» beim Berufseinstieg. Das sind spezielle Trainee-Programme für vielversprechende Talente, sogenannte «High Potentials». Wer genommen wird, bestimmt sich nach sozialer Selektion: Die einen wissen, wie man sich bewegt, wie man redet und auftritt, und die anderen nicht. Damit sind bei gleichwertigem Studienabschluss – auch der Note nach – die meisten Arbeiter- und Mittelschichtskinder raus. Was übrig bleibt, konzentriert sich auf Kinder aus bürgerlichem Milieu. Das steigert sich dann von Stufe zu Stufe.

Ist diese Art von sozialer Selektion bei Absolvent_innen aller Studienrichtungen dieselbe?
Anfang der Neunziger habe ich eine Studie über Informatiker – Studierende der jüngsten akademischen Disziplin – gemacht. Sozial war diese Gruppe, im Gegensatz zu Jura als seit jeher geschlossenem Fach, mit einem Anteil an Arbeiterkindern von 20 Prozent und relativ hohem Frauenanteil ganz anders zusammengesetzt. Es gab eine sozial bunte Mischung bei den IT-Experten. Aber sobald ich mir die Führungspositionen in großen Unternehmen ansah, waren alle ab der Abteilungsleiterebene aufwärts Bürgerkinder. Die Arbeiterkinder brachten sehr gute fachliche Fähigkeiten mit, aber in Führungspositionen geht es um etwas ganz anderes. Der IT-Chef der Deutschen Bank meinte damals: Diese Nerds können wir in keinem Gespräch mit Kunden oder hochrangigen Managern im eigenen Haus präsentieren – die sprechen eine andere Sprache! Und deshalb suchen wir nach denen, die entsprechend reden und auftreten können; soziale Herkunft schlägt hier wieder alles andere. Gewählt wird hier wie vor allem auf der Topebene nach dem Ähnlichkeitsprinzip, gesucht nach einem, der so ist wie man selbst, nur zwanzig bis dreißig Jahre jünger.
Ähnliches gilt auch für die verhältnismäßig jungen Tech-Eliten, bei den leitenden Figuren dieser Konzerne – Gates, Page, Zuckerberg – ist das Muster dasselbe: Zu 80 Prozent sind es Kinder aus gutbürgerlichen Familien, deren Eltern keine Milliardäre waren, aber Professoren an amerikanischen Elite-Universitäten, Ärzte oder – wie etwa im Fall von Bill Gates – wohlhabende Anwälte. Studiert haben die Kinder an Elite-Universitäten, die sozial hochselektive Aufnahmekriterien haben und ganz überwiegend den Nachwuchs der oberen 10 Prozent rekrutieren.

Seit den Achtzigern haben sich steuerliche Rahmenbedingungen für Unternehmen entscheidend verändert – die Körperschaftssteuer für IT-Konzerne beträgt im europäischen Durchschnitt etwa nur 18 Prozent. Was hat das mit dem Einfluss von Eliten zu tun?
Unabhängig vom IT-Bereich wurden die Körperschaftssteuersätze seit den Achtzigern drastisch reduziert – in Deutschland beträgt die Körperschaftsteuer derzeit nur mehr 15 Prozent –, begünstigt wird die Kapitalseite. Die Besonderheit bei IT-Unternehmen ist, dass Facebook und Google immaterielle Güter produzieren. Gewinne lassen sich dadurch besonders gut verschieben. Die steuerpolitischen Beschlüsse wurden jedoch zu einem Zeitpunkt gefasst, als die Exklusivität der politischen Elite drastisch zunahm: Fünfzig Prozent des Kabinetts Thatcher stammte aus der Upper Class und weitere 30 Prozent aus der Upper Middle Class. Ähnlich war es in den USA unter Reagan und Bush – und auch jetzt wieder bei Trump, der die radikalsten steuerlichen Beschlüsse zugunsten der Reichen seit Ronald Reagan gefällt hat. Die exklusive Herkunft der Eliten ist für die Steuerpolitik so entscheidend, weil Bürgerkinder die Wirklichkeit einfach anders erfahren und betrachten als Arbeiterkinder. Das war eines der wichtigsten Ergebnisse unserer großen Studie von 2012. Elitemitglieder aus Arbeiterfamilien fanden die existierenden sozialen Unterschiede zu gut zwei Dritteln ungerecht, Großbürgerkinder zu demselben Prozentsatz gerecht. Dementsprechend sahen die Arbeiterkinder Steuererhöhungen für hohe Einkommen und Vermögen ganz überwiegend als wichtig an. Die Großbürgerkinder waren genau gegenteiliger Meinung. Das prägt ihre Entscheidungen.

Sie haben auch zahlreiche Interviews mit Eliteangehörigen geführt.
Als ich zu Beginn der Achtziger angefangen habe und noch völlig unbekannt war, machte ich einige hundert qualitative Interviews mit Managern und musste noch nicht befürchten, dass die Antworten politically correct sein würden. Im Rahmen der Studie von 2012 ist es gelungen, die tausend mächtigsten Personen Deutschlands zu interviewen. Die kennen allerdings meine Positionen, und ich weiß nicht, ob sie mir das, was sie tatsächlich denken, auch sagen würden. Deshalb haben wir mit einem auf solche Befragungen spezialisierten Meinungsforschungsinstitut zusammengearbeitet, das die Interviews geführt hat. Quantitative Daten über Bildungsverläufe – vor allem über Studium, teilweise auch Schule – lassen sich gut erheben, bei sozialer Herkunft wird es sehr viel schwieriger: In Deutschland – wie auch in den meisten anderen Ländern – versuchen alle Elitemitglieder, ihre soziale Herkunft möglichst tief anzusiedeln. Wenn Eliten dazu überhaupt etwas sagen, stapeln sie tief – und wenn das nicht geht, sagen sie gar nichts.

Das hört sich an, als ob soziale Herkunft das letzte gesellschaftliche Tabu wäre.
Ja. Schlimmstenfalls müssen Sie sogar Todesanzeigen in Regionalzeitungen recherchieren, erst dann kommen Sie an die Wahrheit heran.

Infografik der Illustration nach Moritz Ziegler/WZ
Quelle: Michael Hartmann – Eliten und Macht in Europa