Es gibt auch keine Henker mehrtun & lassen

Muss die Justizwache vor der schwarzblauen Einsparungswelle gerettet werden?

Die Kritik aller vier Präsidenten der Oberlandesgerichte (OLG) an der «unverantwortlichen Sparpolitik» der Bundesregierung bei der Justiz wurde nicht nur von liberalen Medien begrüßt. Ist die Linke von diesem Schuss vor den Bug des schwarzblauen Schlachtschiffes so angetan, dass sie auf die Hälfte ihrer Systemkritik verzichtet? Von Robert Sommer (Text und Bild).

Der derzeitige Insassenstand in den österreichischen Justizanstalten beläuft sich auf circa 9000 Personen, rund 6000 davon befinden sich in Strafhaft, weitere 2000 in Untersuchungshaft. Den Rest bilden die «Untergebrachten». Dieser Kotzbrocken von einem Wort steht für die Kategorie der «geistig abnormen Rechtsbrecher». Die durchschnittlichen Kosten für einen Insassen des Straf- und Maßnahmenvollzuges pro Hafttag belaufen sich auf rund 123 Euro. Diese Kosten, die von der Gesellschaft ohne Murren getragen werden, ergeben sich vor allem durch die Personalkosten. Der Strafvollzug beschäftigte in Österreich – Stand 8. Jänner 2018 – 3700 Beamtinnen und Beamte. Das heißt, dass ein Strafvollzugshelfer, eine -helferin im Schnitt zwei Gefangene zu «betreuen» hat. Diese Beamt_innen sind zweifellos überfordert, schon allein wegen ihrer fehlenden Ausbildung in den Angelegenheiten der Kommunikation mit Migrant_innen im Strafvollzug. Nur 50 Prozent der Insassen haben die österreichische Staatsbürgerschaft.

Es gibt keinen Oppositionspolitiker, keine -politikerin, der oder die darauf hingewiesen hätte, dass der wirkliche Skandal nicht in der Personalreduzierung im Justizbereich besteht, sondern in der Tatsache, dass das Ministerium funktioniert, wie es funktioniert. Welche Vorgänge sind gemeint, wenn Kritiker_innen von der strukturellen Verselbständigung der Justizbürokratie sprechen? Zum Beispiel die Generalisierung des Zustands, dass Häftlinge über ihre Rechte kaum Bescheid wissen. Das System bringt es mit sich, dass die im Strafvollzug Beschäftigten das Interesse haben, dass das so bleibt. Denn um ihre Rechte kämpfende Gefangene bedeuteten Zusatzarbeit für die Beamt_innen. Nach einer aktuellen Studie der Vereinigung Österreichischer Strafverteidiger­_innen werden den Gefangenen, wenn überhaupt, nur ein Ausdruck der Paragrafen des Strafvollzugsgesetzes über das «Verhalten der Strafgefangenen» und die Hausordnung ausgehändigt. Letztere verwendet den Begriff «Recht» nicht. Die Informationen über Rechtsansprüche sind sprachlich als Ge- und Verbote oder als wohltätiges Behördenhandeln formuliert. Soweit feststellbar existieren außerdem bloß zwei A4-seitige (!) Informationsblätter in Deutsch, die nicht über alle Rechte, über die erwähnten jedoch nur unvollständig und schwer verständlich informieren.

Selbstbedienungsapparat.

Es ging den vier OLG-Präsidenten bei ihrer Kritik an den Einsparungen der schwarz-blauen Regierung allerdings nicht um das «Proletariat» in den Justizanstalten, sondern um die Richter. Es sei unerhört, dass eine Regierung erstmals auch gegen Richter vorgehe, schluchzte das Quartett. Niemand von den großen liberalen Journalist_innen des Landes kam auf die Idee, diese Viererbande als das zu benennen, was sie ist: Lobbyisten für eine Bürokratie, die ihre Existenz nicht mehr legitimieren muss, obwohl die Faktenlage einen radikalen Bürokratierückbau plausibel machen würde. Niemand fragte nach, warum man nicht die genialste Methode der Einsparung im Justizbereich gewählt habe, die sukzessive Entleerung der Gefängnisse und den schrittweisen Ersatz des staatlichen Strafens durch außergerichtliche Konfliktlösungen. Fein, dass die vier OLG-Präsidenten auf ihrer Pressekonferenz diese Frage zum Teil gleich selbst und ungefragt beantworteten. Sie verstünden die Regierung Kurz-Strache nicht: Durch Gerichtsgebühren werde doch ohnehin mehr erwirtschaftet als ausgegeben. Bei den vier OLGs stehen Einnahmen von 1,26 Milliarden Euro Ausgaben von 812 Millionen gegenüber, hieß es. Je mehr zivile Konfliktregelungen, desto weniger Gerichtsgebühren,  das ist die simple Logik eines Funktionärsapparats, der in erster Linie sich selbst bedient.

Ein blinder Fleck linker Kritik.

Die parlamentarische Linke, aber leider auch Teile der außerparlamentarischen, sind so angetan von der vermeintlich günstigen Gelegenheit, der schwarzblauen Regierung via Einsparungskritik eines auszuwischen, dass sie auf die Hälfte ihrer Systemkritik verzichten. Die neoliberal ausgerichtete Gesellschaft ist nun aber nicht nur in Reiche und Arme aufgeteilt oder in die Elite und die sprichwörtlichen 99 Prozent, sondern auch in Funktionäre und Nichtfunktionäre beziehungsweise in die sich verselbständige Bürokratie und die Zivilgesellschaft. Der aktuelle Streit um die Kürzungen im Apparat des Justizministeriums weist auf einen blinden Fleck linker Gesellschaftskritik hin: Bürokratieabbau und Partizipationsausbau sind keine linken Anliegen mehr.

Zentrale Anliegen waren sie ja nie. Die linken Parteien reflektierten kaum ihre eigene Verbürokratisierung, die oft in dem Moment einsetzte, wo sie hegemonial wurden. Die Austromarxist_innen zählten im internationalen Maßstab zu den hierarchischsten Parteien des linken Lagers. Verständlich, dass sie nicht sehr empathisch waren mit den kleinen Leuten. Benjamin Opratko und Stefan Probst haben in ihrem Buch «Sozialismus in einer Stadt?» das Bild des der Klasse dienenden Funktionärswesens im Roten Wien hinterfragt. Die SP der Zwischenkriegszeit war staats- und damit bürokratie-bejahend wie sonst keine sich auf Marx berufende Partei. Max Adler drückte das in einer einprägsamen Metapher aus: «So wie man auf einer Druckmaschine ebenso reaktionäre wie revolutionäre Schriften drucken kann, so kann der Staatsapparat an sich jeder beliebigen Staatsordnung die Rechtsform geben.» Die riesigen Gemeindebauten sollten jene Umwelt bereiten, in denen die proletarische Familie ordentlich sozialisiert und durch die entstehende Parteikultur zu «Neuen Menschen» erzogen würde.

Dementsprechend streng reglementiert gestaltete sich das proletarische Leben im Gemeindebau, so Opratko und Probst. Die Hausverwaltung bestimmte, wann und wo Teppiche geklopft und Abfall entsorgt werden durften, wo und wie Kinder im Hof zu spielen hatten, kontrollierte den Zutritt zu den Waschräumen, überwachte die Ordnung in Gängen, Kellern und Balkonen und inspizierte die Sauberkeit der Wohnungen. Überall und jederzeit waren die Mieter_innen der Gemeindewohnungen mit Strukturen, Räumen, Einrichtungen und Regeln konfrontiert, die «für sie» entworfen waren, deren Ausgestaltung aber von den Betroffenen selbst kaum beeinflusst werden konnte. – Siehe dazu auch den Beitrag Orte des Aufstiegs auf den Seiten 18 bis 20.

Der Staat erobert die Partei.

«Die Sozialdemokratie steht heute ersichtlich im Begriff, sich in eine gewaltige bureaukratische Maschine zu verwandeln, die ein ungeheures Heer von Beamten beschäftigt, in einem Staat im Staate», schrieb damals Soziologe Max Weber. Auf Dauer erobere die Sozialdemokratie nicht den Staat, sondern es sei umgekehrt der Staat, der die Partei erobert. Auch in beiden großen Revolutionen Europas, in der französischen und in der russischen, blieb die Bürokratiefrage ungelöst. 1835 beklagte Tocqueville, dass «Zentralisation auf allen Gebieten immer notwendiger» werde. «Eine zentralisierte Macht vermag zwar gewisse große Unternehmen besser auszuführen, besonders in Kriegen ist sie überlegen, aber die Zentralisierung muss auf Dauer die Gesellschaft entnerven.» In Russland konnte die Utopie einer Gesellschaft ohne Bürokratie aus zwei Gründen nicht aufgehen. Erstens übernahmen die in der Bolschewistischen Partei geschulten Funktionäre die Räte. Zweitens verzichteten die Revolutionsgewinner auf die Zerschlagung des alten Staatsapparats. Man kennt das bemerkenswerte Eingeständnis Lenins, dass der bürokratische Sumpf, in den die russische Revolution geraten war, damit zusammenhänge, dass der alte Staatsapparat übernommen worden sei. Sofern der übernommene Staatsapparat an einer Stärkung Russlands interessiert war, verstand er darunter mehr den Prozess des Einholens der industriellen Entwicklungsstandards Deutschlands als die Realisierung einer ursprünglichen utopischen Vorstellung der Bolschewiki, nämlich die potenzielle Übergabe der Regierungsgewalt an Köch_innen.

Freilich, dass Köch_innen Justizwachebeamt_innen ersetzen, ist nun auch keine Lösung. Stattdessen könnte man den Beruf des Strafvollzugsbeamten einfach auslaufen lassen, indem man etwa auf die Nachbesetzung von Altersabgängen verzichtet. Es gibt ja auch keine Henker mehr. Und im Tempo des Verschwindens «schlechter» Arbeit – «gute» gibt es auch im Justizministerium, etwa in Form der Bewährungshilfe – ließe sich eine österreichische Variante der «restorative justice» entwickeln. Das ist eine alternative Form von Konfliktlösung, die erstens die Welt sicherer macht und zweitens sehr viel billiger als das bestehende System ist. Sie braucht keinen Beamt_innenapparat. Sie kommt mit weniger Gefängnissen aus. Die «restorative justice» zielt auf Wiedergutmachung materieller und immaterieller Schäden und die Wiederherstellung von positiven sozialen Beziehungen. Das soll aber, wie man hört, nicht zu den Lieblingsideen der vier «kämpferischen» OLG-Präsidenten zählen.