«Es gibt keine Laufkundschaft mehr»tun & lassen

Augustinverkäufer Martin

Wie ich zu meinem Jeansgilet mit dem Augustin-Logo gekommen bin? Ich bin weder Kapperl- noch T-Shirt-Träger, die gäbe es mit Augustin-Aufdruck, aber keine Gilets. Ich trage immer Hemd und darüber ein Gilet und habe mir daher eines in Eigenregie bedrucken lassen.
In der Regel verkaufe ich von Montag bis Freitag von Mittag bis zirka 20 Uhr abends am Bahnhof Heiligenstadt. Vor Corona bin ich bis spät in die Nacht hinein geblieben, aber jetzt zahlt sich das nicht mehr aus, weil dann nicht mehr viel los ist. Auch samstags fahre ich zum Bahnhof, aber weniger, um Zeitungen zu verkaufen, sondern um meine Zeit hier zu verbringen. Ich brauche nämlich eine vertraute Umgebung. Ich würde niemals wegfahren, ein Wochenende woanders verbringen, selbst dann nicht, wenn ich dazu eingeladen werden würde.
Bevor ich vor 16, 17 Jahren zum Augustin gekommen bin, war ich Hilfsarbeiter im Großhandel oder bei Arbeitsprojekten, beispielsweise im Möbellager der Caritas, oder arbeitete als Tagelöhner bei der MA 48. Ich hätte mir früher nie gedacht, einmal Augustin-Verkäufer zu werden, doch die Politik hat immer stärker bei den Arbeitsprojekten eingespart. Mittlerweile bin ich als unbefristet arbeitsunfähig eingestuft. Somit ist der Zeitungsverkauf die einzige Arbeit, die ich noch ausüben kann und muss das auch machen, weil die Dauerleistung nicht für meine Ausgaben reicht. Es nervt mich, wenn ich gefragt werde, ob ich nicht wieder etwas anderes arbeiten möchte. Ich werde nie wieder etwas anderes machen können, denn zu den körper­lichen Beeinträchtigungen sind noch psychische dazugekommen.
Ich bin 20 Jahre lang schwerer Alkoholiker gewesen. Wegen der Sucht bin ich obdachlos geworden und landete auch zwei Mal im Gefängnis. Daraufhin wollte ich mein Leben ändern, ich bin umgezogen und habe mir einen neuen Freundeskreis gesucht. Bis auf einen Freund, der mich neben der Bewährungshilfe sehr dabei unterstützt hat, vom Alk wegzukommen. Irgendwann hat es schließlich im Hirn klick gemacht, und ich wollte nicht mehr trinken.
Das Zeitungverkaufen bietet mir eine Tagesstruktur, und ich komme mit Menschen in Kontakt. Aber ich habe eigentlich nur noch Stammkunden, Laufkundschaft gibt es keine mehr. Die Armut ist viel größer geworden, Menschen aus Osteuropa kommen zum Betteln nach Wien, auch die Spendenorganisationen werden immer mehr, sie stehen bis in den Abend hinein vor dem Bahnhof. Die Leute wissen nicht mehr, wen sie aller unterstützen sollen.

PROTOKOLL: REINHOLD SCHACHNER
FOTO: NINA STRASSER

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