«Es ist eine Welt zusammengebrochen»tun & lassen

NSU zwischen Verfassungsschutz, Gerichtssaal und Theater

Kunst, Justiz und NSU. In Cannes bekommt Fatih Akins NSU-Film «Aus dem Nichts» eine Auszeichnung. In Wien werden die «NSU-Monologe» inszeniert, am Kölner Schauspielhaus das Tribunal «NSU-Komplex auflösen». Aus Köln berichtet Alexander Behr, was Kunst zu leisten versucht, wenn Politik und Justiz versagen.

Man möchte es kaum glauben: Der deutsche Staat soll über Jahre hinweg aktive Neonazis gedeckt und bezahlt haben? Mitarbeiter_innen des Verfassungsschutzes hätten von den Morden der rechten Terrorzelle «Nationalsozialistischer Untergrund» (NSU) nicht nur gewusst, sondern aktiv dazu beigetragen? Diese Fragen lagen dem Tribunal «NSU-Komplex auflösen» zugrunde, das Mitte Mai im Schauspielhaus Köln stattfand. Gefordert wurde Gerechtigkeit – und die Aufklärung der Hintergründe für die zehn Morde, die die Terrorgruppe NSU in den Jahren 2000 bis 2007 mutmaßlich begangen hat. Die Mehrzahl der Ermordeten entstammt migrantischen Familien.

Der Anspruch, unversehrt zu sein. Seit über vier Jahren läuft in München ein Gerichtsprozess gegen fünf Neonazis, die die Taten begangen haben oder involviert gewesen sein sollen. Der enge Fokus des Prozesses auf wenige Personen würde jedoch außer Acht lassen, dass sich der NSU auf ein breites Netzwerk stützen konnte, meint unter anderem Esther Dischereit, Professorin für Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien, die aktiv am Tribunal teilnahm: «Es bleibt damit offen, ob weitere Täter in der Bundesrepublik unterwegs sind. Deshalb ist es besonders wichtig, das Augenmerk darauf zu richten, dass mit diesem Prozess die Ermittlungen gegenüber Rechtsextremisten und Rechtsterroristen keineswegs als abgeschlossen erachtet werden können.» Man sei die Strafverfolgung nicht nur den Familien der Ermordeten schuldig: «Die Bevölkerung, insbesondere die Menschen mit Migrationshintergrund haben ja einen Anspruch auf Schutz – sie haben einen Anspruch darauf, unversehrt hier leben zu können.»

Lange Zeit hielten die Behörden den Verdacht gegen Angehörige der Opfer aufrecht, sie seien in kriminelle Milieus verstrickt. Die Medien sprachen von «Dönermorden» und unterstellten damit, dass es sich um Gewalttaten innerhalb der türkischen Community gehandelt habe. Doch als das Neonazi-Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschä­pe im November 2011 nach einem versuchten Banküberfall im thüringischen Eisenach enttarnt wurde, war schnell klar, dass die Behörden über Jahre hinweg wissentlich oder unwissentlich falsch ermittelt hatten.

Fritz Burschel ist in der unabhängigen Beobachtungsstelle NSU-Watch aktiv: «Sind es wirklich nur die vier Männer, die mit Beate Zschäpe auf der Anklagebank sitzen, oder gibt es doch, was viele denken, dutzende, wenn nicht sogar hunderte Unterstützer_innen? Eine der wichtigsten Fragen für uns ist, wie viele gedungene Spitzel des Inlandsgeheimdienstes unter den Unterstützer_innen des NSU waren.»

Wenn der Rechtsstaat versagt. Die Geschichte des NSU reicht bis in die 1990er-Jahre zurück. Als nach dem Fall der Berliner Mauer die rechtsextreme Gewalt sprunghaft anstieg, bildeten sich in den ostdeutschen Bundesländern starke Neonazi-Strukturen heraus. Das Trio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe ging aus der Neonazi-Szene der ostdeutschen Stadt Jena hervor. Mitte der 1990er-Jahre schlossen sie sich dem «Thüringer Heimatschutz» an, einer Neonazi-Organisation, die wesentlich von Tino Brand mitaufgebaut wurde. Der Rechtsradikale, der aktuell wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen eine über fünfjährige Haftstrafe absitzt, stand jahrelang im Sold des Verfassungsschutzes und soll insgesamt 200.000 D-Mark, umgerechnet circa 100.000 Euro, erhalten haben. Auf diese Weise flossen Gelder des deutschen Staates in den Aufbau von späteren Terrorstrukturen.

Gegen Ende der Neunzigerjahre radikalisierten sich Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe und gingen schließlich in die Illegalität. Bis zum Jahr 2003 gab es gegen das Trio einen Haftbefehl, der jedoch seltsamerweise wieder eingestellt wurde. Neben den Terroranschlägen und Morden organisierte das Trio in den Jahren 1998 bis 2011 mutmaßlich fünfzehn Raubüberfälle, vornehmlich auf Banken.

Im Juni 2004 verübte der NSU vor einem türkischen Frisörladen in der Kölner Keupstraße ein Nagelbombenattentat, mehrere Menschen wurden schwer verletzt. Die Keupstraße, nur wenige Minuten vom Schauspielhaus Köln entfernt, ist symbolträchtig für das deutsch-türkische Leben der Stadt. Doch nach dem Anschlag wurden die Anwohner_innen der Keupstraße jahrelang drangsaliert und in Verhören gedemütigt. Der Lehrer und Musiker Kutlu Yurtseven, der unter anderem in der «Microphone Mafia» rappt, wuchs in diesem Stadtteil auf. Er ist eng mit der Keupstraße verbunden. «Von der ersten Generation Migrant_innen haben viele den Putsch in der Türkei miterlebt. Für die war Deutschland immer DER Rechtsstaat. Mein Vater fuhr immer in die Türkei und sagte: ‹Was hier in unserer Heimat alles abgeht, das könnte in Deutschland nie passieren.› Für diese Menschen ist nach dem Attentat eine Welt zusammengebrochen.»

Zum Abschluss wurde im Kölner Schauspielhaus ein «Manifest der Zukunft» veröffentlicht. Bleibt zu hoffen, dass das Tribunal einen realen Einfluss auf den Verlauf des Gerichtsverfahrens in München haben wird.

Tribunal NSU-Komplex auflösen:

www.nsu-tribunal.de

Die NSU-Monologe:

14. Juni, 20 Uhr

TU Wien Informatikhörsaal, 4., Treitlstraße 3