«Es ist noch nicht alles verloren für die Menschheit»tun & lassen

Jana W.

Manchmal habe ich in U-Bahn-Stationen übernachtet. Es gibt auch nette Mitarbeiter der Wiener Linien, die sagen: «Ok, witterungsbedingt kannst du hier schlafen.» In der Früh um sechs kommen sie vorbei, wecken dich, und manche sind so cool, dass sie dir sogar Kaffee mitbringen. Das ist Zucker, das sind so Tage, wo du dir denkst, es ist doch noch nicht alles verloren für die Menschheit! Anders, als wenn einer dich gleich anraunzt: «He, he, pack’ dich zam!» Haben wir schon zusammen Schafe gehütet, dass wir du zueinander sagen, oder was?

Dass ich wohnungslos bin, würde ich als eine Verkettung ungünstiger Umstände bezeichnen. Eine unerwartete Situation ist so eskaliert, dass es zu einer schweren Körperverletzung mit Todesfolge kam, die in eine mehrjährigen Haftstrafe gemündet ist. Seit der Haftentlassung bin ich wohnungslos. Das Gefängnis ist eine sehr schwierige Angelegenheit. Du bist eine Haftnummer und hast deine Strafe abzusitzen, und das war’s. Du bist weggesperrt und nicht mehr Teil der Gesellschaft. Du hast viel Zeit mit dir alleine, hast viel verloren, was dein Leben ausmacht, was deine Definition ausmacht, bist entwurzelt, getrennt von deinen Lieben. Zur Resozialisierung von Menschen trägt Haft relativ wenig bei, eher zum Gegenteil.

Ich befinde mich in einer prekären Wohnsituation, ich finde Unterschlupf bei Freunden. Ich habe fast zwei Jahre komplett draußen gelebt, habe dann kurzfristig in einer Einrichtung gewohnt, aber das habe ich durch das Hafttrauma nicht ausgehalten. Das war für mich psychisch überhaupt nicht tragbar – die Enge, die Stimmung, der Hygienemangel. Für mich ist es ein ganz massives Problem, wenn Dutzende von Menschen sich gerade in diesen Zeiten zwei Toiletten teilen, die einmal am Tag gereinigt werden, wenn überhaupt. Manchmal kommt der Reinigungsdienst auch nicht, weil er Angst vor Ansteckungen hat. Und es ist schwierig, in der Einrichtung an Putzmaterialien zu kommen, um in Eigenverantwortung zu putzen. Du kannst die Wäsche waschen, aber es gibt eine Waschmaschine für sechzig bis siebzig Bewohner, von denen viele auch an infektiösen Hautkrankheiten leiden. Zweifelhaftes Vergnügen. Der Vorteil ist, es gibt drei Mahlzeiten am Tag. Man könnte gerade in solchen Einrichtungen über die Ernährung das Immunsystem unterstützen, allerdings geht das nicht, wenn es permanent nur Weißbrot gibt, warmes Packerlessen und nur mit viel Glück mal eine Gurke oder eine Tomate. Es ist auch schön und gut, dass die Bäckereien Lebensmittel spenden, aber was zur Hölle mach ich mit dem Brot, mit dem ich am besten jemand erschlagen könnte, bevor ich’s ess – weil’s schon so hart ist.

Abstandsregelungen sind nicht machbar in diesen Einrichtungen, weil sie grundsätzlich zu voll sind. Erschwerend kam im letzten Jahr hinzu, dass immer wieder unklar war, ob noch ein Lockdown kommt oder nicht. Die Energie zwischen den Leuten regt das Potenzial für Konflikte extrem an, und du kannst dem nicht aus dem Weg gehen. Sprachlich sind die Konflikte kaum zu regeln, weil achtzig Prozent der Leute über «Hallo, wie geht’s?» hinaus kein Deutsch sprechen und Dolmetscher nicht immer zur Verfügung stehen. Bei vielen kommt dazu, dass sie rausgehen müssen, weil sie betteln oder weil sie sich Alkohol besorgen müssen oder irgendetwas anderes. Das macht die natürlich noch viel aggressiver, wenn sie nichts machen können und nichts haben. Das fällt unglaublich im Stimmungsbarometer auf, wenn man den Leuten auch noch das Nichts wegnimmt und sie in ihrer persönlichen Freiheit so einschränkt. Und dann sind natürlich die Betreuer auch super gestresst mit diesen momentanen Umständen. Jeden Tag kommen andere Verordnungen, es gibt keinen festen Leitfaden. Ich kann mir schon vorstellen, dass das einfach kompliziert zu managen ist.

Im Haus Jaro, in dem ich war, sind achtzig bis fünfundachtzig Prozent der Belegung Männer. Es gibt einen gesonderten Frauentrakt mit fünf oder sechs Zimmern. Die Frauen werden abends separiert durch eine Feuerschutztür. Unter dem Sicherheitsaspekt verstehe ich das, aber du bist quasi ab acht Uhr abends eingeschlossen. Es gibt keine Teeküche, man muss sich tatsächlich das warme Wasser von der Toilette aus dem Wasserhahn holen. Das sind Sachen, die finde ich persönlich relativ entwürdigend. Wenn ich, um ein Glas Wasser zu trinken, auf die Toilette gehen muss, kann ich auch am Bahnhof schlafen. Und natürlich bringt diese Überzahl an Männern eine ganz eigene Gruppendynamik mit sich. Als Frau bist du permanent einer Anmache ausgesetzt. Diese harmlosen Alltagsflirtereien nerven einfach nur. Du kannst zwar gute Miene zum bösen Spiel machen, weil du fährst einmal drüber, zweimal drüber, ein drittes Mal drüber – und dann sind da zwanzig Mann, die schlechte Laune haben, weil: «War ja nur Spaß.» Ja, aber irgendwann hat der Spaß ein Loch! Und es ist nicht abwertend gemeint, aber guck dich mal an, also auf der Straße würde ich auch nicht mit dir reden, entschuldige bitte. Ist einfach so. Wenn da einer vor dir sitzt, und du hast das Gefühl, du gehst ihm mit dem Messer durch die Haare und kannst dir zehn Brote schmieren, wer flirtet denn mit so jemand gerne? Um die Stimmung aufzuheitern? Sehe ich aus wie ein Pausenclown? Du bist auf einer Freiwildschiene, weil klar ist, dass du als Frau in so einer Situation keine Lobby hast. Viele Frauen sind gar nicht in der Lage zu sagen: «Stopp, nein, ich möchte das nicht», weil sie so belastet sind und dann eher in Rückzug gehen. Wenn du es den Betreuern meldest, wird es häufig als Lappalie abgetan. «Der hat’s nur lustig gemeint.» Du bist ständig Grenzübertretungen ausgesetzt.

Als Frau hast du im Prinzip zwei Möglichkeiten: Du hast entweder einen halbwegs normal funktionierenden Freundes- und Bekanntenkreis, ein soziales Netzwerk. Oder, eine nicht wirkliche Alternative, man sucht sich einen Mann oder wird von einem Mann gefunden. Unter solchen Voraussetzungen sind das meistens ganz ungesunde Beziehungen, weil es ein klar verschobenes Machtverhältnis ist: Derjenige, der die Wohnung und das Geld hat, ist der, der die Ansagen macht, und mangels Alternativen macht man auch viel mit, was man sich, wenn man frei entscheiden könnte, nicht ansatzweise bieten lassen würde. Und es ist schwierig, da wieder rauszukommen. Auch wenn es eine von Gewalt dominierte Beziehung ist, ist es schwer, eine Lobby bei der Polizei und bei der Justiz zu kriegen, weil man oft nicht als Opfer gesehen, sondern als so eine Art Mittäter stigmatisiert wird, weil «man will’s ja nicht anders». «Warum haben Sie auch noch mit dem zusammen getrunken?» «Warum sind Sie mit denen zusammen, wenn Sie doch wissen …?». Ja, weil es keine Alternativen gibt! Und es gibt auch wenig Interesse von der Staatsanwaltschaft oder der Justiz, das zu verfolgen. Die haben wichtigere Sachen zu tun, als die Interessen einer obdachlosen Frau zu vertreten.

Ich war auch im Haus Miriam, ein reines Frauenhaus. Für mich war der Eindruck schwer auszuhalten, dass die Leute dort abgestellt werden. Sie sind als Störfaktor aus dem Bild raus, und was mit ihnen passiert, ist wurscht. Eine war vier Jahre dort und hat immer noch auf eine Wohnung gewartet. Dabei gib es so viel Leerstand! Es ist wirklich menschenverachtend, Leerstand als Objekt zur Steuerabschreibung zu dulden, und gleichzeitig Menschen unter solchen Umständen zusammenzupferchen. Die meisten Leute, die aus solchen Einrichtungen rausgehen, gehen nicht in eine eigene Wohnung, sondern in andere Einrichtungen. Aus dem System aus Eigeninitiative wieder rauszukommen, ist fast unmöglich. Die zuständigen Stellen sagen dir: «Sie haben da ein Dach überm Kopf, muss reichen.» Nein, reicht nicht! Auf den ersten Blick vielleicht schon – du bist raus aus der Kälte, gerade im Winter, hast drei Mahlzeiten am Tag, fällst in ein Sicherheitsnetz und fällst dabei aus der Gesellschaft raus. Sie zetern alle herum mit ihrem Infektionsschutzgesetz, aber war mal irgendjemand von der Stadtregierung in diesen Einrichtungen und hat sich angeschaut, wie das läuft?

Nicht nur das Infektionsgeschehen muss sich ändern, sondern auch die Formen der Unterbringung, dieses gemeinsam Kasernieren und auch dieses Abstempeln. Wenn du irgendwo hingehst mit einem Meldezettel oder einem Aufenthaltsnachweis, hast du gleich so einen Stempel. Es ist unglaublich schwierig, einen Antrag zu stellen ohne festen Wohnsitz. Du kannst dich bei einem Verein für die Postadresse anmelden, oder du versuchst es privat zu managen, über Bekannte, um nicht eine Postadresse wie etwa das P7 zu haben, aus der sofort hervorgeht, dass ich obdachlos bin. Wenn man sich für einen Job bewirbt, und da steht «ohne Wohnsitzqualität», fällst du eigentlich grundsätzlich schon mal raus. Dasselbe Problem hast du bei Wiener Wohnen. Wenn du nur eine Postadresse hast, musst du aufpassen, dass du nicht aus den Anspruchszeiten rausrutschst: «Sie haben jetzt zwei Jahre eine Postadresse. Aber wer sagt uns, dass sie zwei Jahre in Wien waren?» Ja, das sagt Ihnen niemand, aber ich habe ja auch nicht ohne Grund meine Postadresse hier, und wenn ich offiziell ohne Einkommen und ohne alles bin, dann werde ich wahrscheinlich auch nicht ständig irgendwo anders sein.

Momentan habe ich das Glück, dass ich mental sehr stark bin. Aber ich habe auch Phasen, wo es mir wirklich zu viel wird und ich zum therapeutischen Trinken greife. Es ändert nichts an den Tatsachen, macht’s aber für ein paar Stunden erträglich. Mein bester Freund hat sich dieses Jahr totgesoffen. Bewusst. Er hat gesagt: Ich will nimmer. Und ich kann das verstehen. Du hast keine psychologische Betreuung. Du wirst verwahrt, hast Bett und Essen, und ansonsten bist du niemand. Du hast faktisch null Einkommen. Da kannst du spazieren gehen. Aber wenn’s nur mal ins Kino gehen oder ein Theaterabend sein soll … der Geist stirbt ja nicht. Es geht nicht nur ums körperliche Wohl.

Dass du aus der Wohnungslosigkeit zurückfindest in die Selbstständigkeit, das schaffst du mit zwanzig Jahren nach zwei, drei Jahren auf der Straße noch mit links. Mit Anfang vierzig machst du es nicht mehr mit links, mit Anfang fünfzig schon gar nicht – und sechzig werden die meisten nicht. Das fordert ja auch seinen gesundheitlichen Tribut. Oft geht eine Krankengeschichte mit einer kleinen offenen Wunde los, dann ist es der ganze Fuß und dann das ganze Bein. Vom vielen Sitzen auf Bänken, in der Straßenbahn, wo es halbwegs warm ist, bekommt man Ödeme und Wunden, die nicht abheilen. Infektionen schlagen sich auf die inneren Organe, das müsste internistisch behandelt werden, viele sind aber nicht krankenversichert. Das Neunerhaus ist eine gute Alternative, auch AmberMed – aber es ist zu wenig für eine Stadt wie Wien. «Kümmern Sie sich um eine Krankenversicherung!», habe ich heut Früh in der Schnupfenbox erst wieder gehört. Ok! Mach ich! «Das ist in diesen Zeiten besonders wichtig!» Nein?! Wär’ ich ja so gar nicht drauf gekommen, nett, dass Sie mich drauf hingewiesen haben!

Geht’s uns allen zu gut? Geht’s uns schon zu lange zu gut – oder geht’s uns eigentlich viel zu schlecht? Das ist eine fast philosophische Frage, mit der man sich in solchen Zeiten nicht beschäftigen sollte. Was ich mir wirklich wünschen würde, wär wieder eine Basis zu haben, also eine Wohnung, ein eigenes Reich, und mit all den Erfahrungen, die ich gemacht habe, anderen zur Seite zu stehen, ihnen zu helfen, alternative Möglichkeiten zu finden. Quasi so eine Villa Kunterbunt, die Menschen mit ähnlichen Geschichten wie meiner einen Raum gibt, von dem aus sie wieder in ihre Normalität zurückfinden und von sich aus wieder Teil dieser Gesellschaft werden können, die sie verstoßen hat. Wohnung, Arbeit, Gesundheit und persönliche Freiheit. Mehr ist es nicht. Und ein bisschen mehr Liebe unter den Menschen wär nicht schlecht, wenn ich mir schon was wünschen kann.  

Protokolle aus dem Filmprojekt «Weisse Türen, weisse Fenster»
Interviews & Texte: Gabriela Markovic, Lisa Bolyos
Filmstills: Victor Kössl

Weiße Türen, weiße Fenster

Ein Kurzfilmprojekt über Frauen, die Erfahrung mit Wohnungslosigkeit gemacht haben
Idee: Regina Amer, Verein HOPE Austria
Konzept: Regina Amer, Gabriela Markovic,
Victor Kössl und Lisbeth Kovačič
mit: Jana W., Renate A., Carmen P. u. a.
Interviews: Gabriela Markovic
Kamera: Victor Kössl
Regie: Lisbeth Kovačič
Schnitt: Sandra Sieczkowsi
Tonmischung: Alexander Zlamal

Release: 2. Juni, www.klappeauf.at, #klappeauf
Augustin TV auf okto: 16. Juni