Das Feuer auf der Insel Moria ist nur eine Momentaufnahme dessen, was an den Rändern der Europäischen Union los ist. Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger spricht mit dem AUGUSTIN über eine Katastrophe, die lange vor dem Brand begonnen hat, und meint, dass Mauern nichts mit Management zu tun haben.
Interview & Foto: Lisa Bolyos
In Moria sitzen Menschen fest, deren Gesundheit und Überleben der europäischen Politik offensichtlich nicht sehr viel wert sind. Aber auch in Fieberbrunn in Tirol, in den Flüchtlingscamps in Bosnien und den Gefängnissen in Ungarn schaut die nahe Zukunft für tausende Menschen eher übel aus. Was schlagen Sie vor, dass Österreich tun soll?
Lassen Sie mich vielleicht damit beginnen, was wir jetzt nicht mehr tun sollten: die gesamte Schuld und Verantwortung an diesen und ähnlichen Notlagen der EU zuzuschieben. Das wäre politisch kurzsichtig und hat in der Vergangenheit genau solche Situationen erzeugt. Was Österreich nun tun muss, ist endlich positive Impulse senden und einstimmen in den Chor der Willigen. Die EU sind wir alle, und deshalb können wir als Mitgliedstaat einen wesentlichen Beitrag leisten, damit sich die EU-27 auf eine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik verständigen, die diesen Namen auch verdient hat. Derzeit tut die österreichische Bundesregierung leider genau das Gegenteil und reiht sich ein in die Ränge der Verhinderer und Blockierer.
Ähnliches gilt für die Bevölkerung: Das Klima in diesem Land bestimmen wir alle mit unserer Haltung mit. Nun gilt es Druck auf die Verantwortlichen zu machen, indem wir Mut zur Menschlichkeit zeigen und deutlich machen: Wir wollen helfen.
Die Katastrophe von Moria wurde von der europäischen Flüchtlingspolitik selbst verschuldet, sagen Sie. Wie das?
Die Lage in Moria wurde sehenden Auges produziert. Die bisherige Migrationspolitik der EU war und ist im Grunde reine Sicherheitspolitik – die aber, wie wir jetzt in Moria und anderen Lagern vor Augen geführt bekommen, chronische Unsicherheit für die Betroffenen schafft. Das «subjektive Sicherheitsgefühl» hierzulande ist teuer erkauft: Laut der Internationalen Organisation für Migration gehören die Grenzen Europas zu den tödlichsten der Welt, noch vor der stark militarisierten Grenze der USA zu Mexiko.
Ich betrachte Moria als das grausame Fundament einer konsequenten, jahrelangen Externalisierung, also einer Auslagerung der EU-Außengrenzen an Drittstaaten, die im Grunde nur eine Strategie verfolgt: Aus den Augen, aus dem Sinn. Wir haben es mit einem systemischen Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik zu tun und nicht mit einer akuten Katastrophe, die schnell wieder gelöscht ist.
Die Initiative «Courage – Mut zur Menschlichkeit», die Sie unterstützen, möchte 144 Plätze für Menschen schaffen, die dringend von Moria wegmüssen. Ist 144 nicht peinlich wenig für Österreich? Wenn sich alle 27 EU-Staaten anschließen, sind wir bei nicht einmal 4.000 Menschen.
144 ist für uns ein symbolischer Anfang, weil 144 der Rettungsnotruf ist. Wir unterstreichen damit, dass es um die Rettung von Menschen geht, denn in der Not zu helfen ist eine menschliche Pflicht. Natürlich ist die Zahl klein, aber angesichts der Widerstände trotzdem ambitioniert. Und wir haben die Latte bewusst niedrig gelegt, um zu zeigen, dass es nicht am Platz, am Geld oder sonstigen Ausreden scheitert, sondern ausschließlich am politischen Willen. Die Regierung muss uns nur erlauben, Menschen zu retten.
Im Reden über Flüchtlinge, Grenzen und Heimat geht es viel um die Frage, wer kommen darf, wer wirklich flüchtet und wer «nur» migriert.
Was macht es für Menschen so wichtig, andere nach ihrem Rechtsstatus einzuteilen?
In politischen Diskurs vermittelt das ein Gefühl der Ordnung, der Sicherheit und der vermeintlichen «Legitimität» auf Mobilität – die wir als Europäerinnen und Europäer für uns jedoch ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen. Im Global Passport Power Rank 2020 rangiert der österreichische Reisepass an dritter Stelle nach Belgien und Deutschland. Wir dürfen fast überall ungehindert einreisen.
Rechtliche Einordnungen wie «Flüchtling», «Familien-» oder «Arbeitsmigrant» sind aber im Grunde nur künstlich geschaffene Kategorien und bilden, wie wir aus der Forschung wissen, die Komplexität globaler Migrationsbewegungen nicht ab. Vor allem sind die humanitäre und die Arbeitsmigrationsschiene viel zu wenig durchlässig – es müssten Möglichkeiten zum Spurwechsel geschaffen werden. In der Realität haben wir es vielfach mit sogenannter «Mixed Migration», also gemischter Migration, zu tun, weil Flucht- und Migrationsgründe oft ineinandergreifen und sich gegenseitig potenzieren. So führt beispielsweise Krieg auch zu ökonomischer Deprivation – ist der Mensch, der deshalb seine Lebensgrundlage verliert und sein Land verlässt, um anderswo ein Einkommen zu finden, also ein Wirtschaftsflüchtling? Dieses Bewusstsein für die Dynamik und Komplexität von Flucht- und Migrationsbewegungen würde ich mir auch in der Öffentlichkeit wünschen.
Sie sprechen von «Management statt Mauern». Mauern sind aber doch Teil des Migrationsmanagements. Warum nicht «Bewegungsfreiheit statt Management»?
Mauern sind sicher keine Form von «Management», denn sie lösen keine Probleme. Diese Formulierung ist daher ganz bewusst gewählt. Es wird immer so getan, als würden die Mauerbauer und Routenschließer für Ordnung und Sicherheit sorgen – für dieses Versprechen werden sie gewählt. In Wahrheit produzieren sie Chaos, Leid und systemische Unsicherheit, wie man jetzt in Moria sieht. Ordnung und Sicherheit gibt es nur mit sicheren, legalen und geordneten Fluchtmöglichkeiten. Das gehört deutlicher gesagt, vor allen auch jenen Teilen der Bevölkerung, denen Ordnung und Sicherheit besonders wichtig sind.