«Es sind lauter Künstler:innen»tun & lassen

Emma Lou. «Sie zeigt uns den Weg», sagt ihre Mutter, Regisseurin Evelyne Faye (Filmstill: NGF)

Emma Lou, Andrea, Johanna, Raphael und Magdalena sind junge Erwachsene mit Down-Syndrom. Sie leben selbstbestimmt und selbstbewusst. In ihrem Dokumentarfilm «Lass mich fliegen» stellt Evelyne Faye sie und ihre Lebensentwürfe vor.

 

Sie haben den Text zu einem Bilderbuch geschrieben, in dem es um den Umgang einer Familie mit der Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom geht – «Du bist da und du bist wunderschön».

Evelyne Faye: Als meine Tochter Emma Lou geboren wurde, war das eine schwierige Erfahrung. Ich erzähle das in dem Film, da waren die Ärzt:innen, Krankenschwestern und betroffene ­Blicke. Unsere Familie und Freunde ­waren sprachlos und traurig. Noch dazu ­musste meine Tochter nach der Geburt in ein anderes Krankenhaus ­transferiert werden. Wir Eltern sind nachhause ­geschickt worden mit der Diagnose Down-Syndrom, die uns nebenbei in einem Gang vermittelt wurde. Es war schwer, sich Gedanken um Emma Lou als Person zu machen. Die Diagnose mit den Schreckensbildern nahm den ­gesamten Platz ein. Die Motivation, warum ich dieses Buch geschrieben habe, war, dass mir sehr schnell klar wurde, dass die Diskrepanz zwischen der Diagnose und ­allem, was man damit ­verbindet, und der ­Realität enorm sein kann. Der ­Moment, als ich wieder ins Krankenzimmer kam und meine Tochter mich angeschaut hat, war ein entscheidender Moment, wo ich erfahren habe, sie zeigt uns, was sie braucht, wie es ihr geht, wie sie sich entwickeln wird, und nicht die Diagnose gibt den Weg vor. Deshalb war für mich ganz wichtig, dieses Gefühl zu vermitteln, was ich in dem Buch Du bist da und du bist wunderschön – es ist übrigens letztes Jahr als interaktive App herausgekommen – versuche. Es ist anders, als man es sich vorgestellt hat, aber es ist nicht das Ende der Welt, und das Leben ist schön.

Was war der Ausgangspunkt, einen Film mit und über Menschen mit Trisomie 21 zu machen?

Wir haben sehr viele Therapien ­gemacht, wir waren sehr oft in Entwicklungszentren und haben uns beraten lassen. Meine Tochter wurde begleitet, und wir haben dadurch großartige Menschen kennengelernt, engagierte, tolle Fachmenschen. Trotz allem habe ich das ­Gefühl, es ist alles so defizitorientiert. Bei meinen anderen Kindern wussten wir, es gibt Entwicklungspunkte, wann sie sich motorisch so und so entwickeln sollten, sprachlich, kognitiv usw. Aber bei Emma Lou war es anders, das wussten wir, die Orientierungspunkte gibt sie uns. Was ich realisiert habe, ist, es wäre gut, wenn man so mit jedem Kind umgeht. Dass man viel mehr auf die Persönlichkeit, die Wünsche, die Fähigkeiten des Einzelnen eingeht und sich nicht an dem, was in ­einem gewissen Alter verlangt wird, orientiert. Das war der Grundgedanke bei Lass mich fliegen. Ursprünglich wollte ich ­einen interkulturellen Vergleich machen, aber durch Corona hat sich das anders entwickelt. Ich habe unglaublich tolle Menschen persönlich kennengelernt und ich bin unendlich dankbar, dass sie mir vertraut haben. Im Film zeigen sie ihre eigenen Lebensentwürfe, die mir als Mutter Kraft geben.

Die Protagonist:innen des Films sind sehr beeindruckend. Wie haben Sie sie kennengelernt?

Ich war 2018 auf dem World Down Syndrome Congress in Glasgow und traf dort sehr viele Menschen mit Down-Syndrom, die für sich selbst gesprochen ­haben, über ihr Leben erzählten, über das, was sie ­bewegt, über ihre beruflichen Errungenschaften. Dort lernte ich Andrea kennen. Ich wusste schon ganz am Anfang, dass alle Protagonist:innen im Film für sich selbst reden sollten. Es sollte kein Voice-over geben, wo man über sie sprechen lässt. Denn das sind sie schon gewohnt. Ich wollte ­ihnen diese Stimme geben, eine Sichtbarkeit verleihen, und die Möglichkeit, dass sie im Kino ihre Meinung den Zuschauer:innen präsentieren können und ihnen somit zeigen, alles, was ich bis jetzt geglaubt habe, stimmt nicht. Später musste ich mich aufgrund Corona mehr auf die Region, auf Österreich konzentrieren. Ich habe das Glück, dass meine Tochter bei Ich bin O.K. mitmacht. Das ist eine inklusive Tanzschule und Tanzcompanie. Mit ganz tollen Tänzer:innen, darunter ­Johanna, ­Raphael und Magdalena. Im Film gibt es viele Tanzszenen, weil ich zeigen wollte, wie stark Tanzen als Ausdrucksmittel gelten kann. Es sind lauter Künstler:innen.

Österreich steht in Sachen Inklusion nicht so gut da. Z. B. gibt es immer noch Sonderschulen.

Das sieht man auch bei der aktuellen Bürgerinitiative für das Recht auf ein 11. und 12. Schuljahr für Kinder mit Lernschwierigkeiten. Dass man als Privatperson, als Familie eine ­Bürgerinitiative auf die Beine stellen muss, damit sein Kind, das Lernschwierigkeiten hat, das Recht ­bekommt, weiter in die Schule zu gehen, wenn es älter als 16 ist, ist schon seltsam. Laut Gesetz darf jedes Kind bis 18 in die Schule gehen (Ausbildungspflicht bis 18, Anm.). Die Eltern werden zu Bittsteller:innen. Grundsätzlich gibt es im Bildungssystem extrem viel Arbeitsbedarf. Es gibt Unterstützung, aber ­Inklusion ­sollte vom Kindergarten an selbstverständlich sein. Es ist nicht nur wichtig für Kinder mit besonderem Bedarf, sondern für alle Kinder, denn Kinder ohne ­Behinderungen wachsen zu toleranteren Menschen ­heran, die keine Angst haben, wenn sie später Menschen mit Behinderung in ihr Team aufnehmen. Ich bin überzeugt, dass, wenn man dieses System vom Kleinkindalter bis zu dem Zeitpunkt, wo man ins Arbeitsleben geht, inklusiv und unterstützend organisiert, man später weniger Abhängigkeiten hat, und selbstständigere Menschen, die auch selbstbestimmter leben können.
Jeder Mensch soll sich gebraucht und hilfreich fühlen, nicht nur toleriert. Man muss willkommen geheißen werden und seinen Beitrag leisten können. ­Andrea spricht im Film über das Thema Arbeitswelt. Eigentlich hat sie eine schulische und eine berufliche Ausbildung in der ­Betreuung älterer Menschen abgeschlossen, Aber sie bekommt keine Stelle. Ihre Mutter erklärt, die Vorgaben für diesen Job sagen, dass pro Klient:in sechs Minuten Pflege eingeplant sind, deshalb kann Andrea das nicht erfüllen. Aber ich glaube, das kann niemand erfüllen, ohne ein Burnout zu bekommen. Und die Klient:innen haben nichts davon. Sie würden sich ­freuen, wenn jemand wie Andrea sich Zeit für sie nimmt.

Der Filmtitel «Lass mich fliegen» ist eine Zeile aus einem Gedicht von Magdalena. Er ist sehr schön und passend, denn es geht darum, Menschen sich selbst entwickeln zu lassen, ihren Träumen zu folgen.

Es ist eine sehr starke Message in dem Film, es geht darum, Menschen von Anfang an die gleichen Chancen zu erlauben und ihnen nicht diese Etikettierung zu geben. Es geht hier nicht nur um Behinderung, es geht um alle Arten des Andersseins. Es ist eine Erinnerung, dass jeder Mensch die Möglichkeit haben muss, sich so vielfältig zu entwickeln, wie er oder sie es sich selbst wünscht und es auch kann. Damit jeder Mensch seine Entscheidungshoheit haben kann.

 

Lass mich fliegen

«Du bist keine Diagnose. Du bist einzigartig. Und du wirst uns deinen Weg zu deinem Glück ­zeigen.» Das sagt Evelyne Faye in ihrem ersten Film Lass mich fliegen über ihre Tochter Emma Lou, die mit dem Down-Syndrom geboren wurde. Im Film ­sehen wir Emma Lou beim Spielen, im Alltag, beim Welt-Entdecken und wir lernen junge ­Erwachsene mit ­Trisomie 21 kennen, die ihr Leben großteils selbstständig meistern. Andrea liebt Opern, sie hat eine Ausbildung als Betreuungsassistentin und sie hält ­Vorträge. ­Raphael spielt Golf und arbeitet in der ­Gastro. Er wohnt mit seiner Freundin Johanna ­zusammen, beide sind Tänzer:innen. Johanna engagiert sich für das Recht auf Bildung. Auch ­Magdalena tanzt, sie engagiert sich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung, und sie schreibt Gedichte – «… Der Wind ist die Freiheit. Lass mich fliegen. Ich will nicht am Boden liegen bleiben.»

Ab 17. März im Kino
www.lassmichfliegen.com
www.dubistda.net

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