«Es wird niemand besser, weil er eingesperrt ist»tun & lassen

Sein Engagement in der Katholischen Arbeiter_innenbewegung führte den gelernten Huf- und Wagenschmied Hans Gruber zum Priesteramt. Als «Wasserkaplan» war er in den 1970er-Jahren an zwei Donaukraftwerks-Baustellen tätig. Seit über fünfzig Jahren ist er Gefängnisseelsorger.

Interview: Florian Müller
Foto: Reinhard Winkler

Als Gefängnisseelsorger haben Sie über fünfzig Jahre lang die Justizpolitik beobachtet, die stark ideologisch geprägt ist. Was ist der Unterschied zwischen Links und Rechts im Umgang mit der Haft?
Hans Gruber: 1970 hat es in Holland pro einhunderttausend Einwohnern fünfundzwanzig Leute gegeben, die im Gefängnis waren. In Großbritannien waren es an die sechzig, in der Bundesrepublik Deutschland an die achtzig und in Österreich hundertzwanzig. Sind die Österreicher also viel krimineller? Nein! Der eine Grund sind die Offizialdelikte. Viele Delikte müssen in Holland oder England nicht, in Österreich aber schon angezeigt werden. Das zweite ist, dass es in Österreich schon von der Monarchie her eine lange Tradition des Einsperrens gibt. Wenn einem Obdachlosen in der Kaiserzeit kalt war im Winter, ist er auf den Hauptplatz gegangen und hat geschrien: «Der Kaiser ist ein Trottel!» Das war Majestätsbeleidigung, und schon ist er wieder drei Wochen im Gefangenenhaus gesessen, in einem geheizten Raum mit fester Verpflegung. Der Ruf nach Sicherheit ist immer ein Politikum. Es zeigt sich in den Jahren zwischen 1970 und 2000, dass jeweils bei sozialdemokratischen Justizministern die Einsperrquote gesunken ist, die niedrigste Zahl waren einmal sechstauend Menschen in Österreich. Unter den schwarz-blauen Regierungen ist die Zahl bis auf neuntausend gestiegen. Und auf dieser Marke sind wir auch jetzt wieder. Minister Broda hatte überhaupt die Vision einer gefängnislosen Gesellschaft. Das war natürlich ein visionärer Begriff, der viel kritisiert wurde. Aber es hat doch gezeigt, wie man mit dem Einsperren umgehen kann.

Von offizieller Seite wurde die Gefängnisseelsorge ein wenig sich selbst überlassen. Sie haben sich daher selbst organisiert. Wie ist das abgelaufen?
Mit der Koordination haben die hauptamtlichen Seelsorger in den Wiener Gefangenenhäusern in den 1950er-Jahren begonnen. Dort hat es schon immer voll angestellte Priester beim Justizministerium gegeben. Das war zunächst einmal der Versuch, gegenüber dem Ministerium ein Sprachrohr zu haben. Ab den 1980er-Jahren wurde diese Organisation zu einem Ausgangspunkt für Weiterbildung. Es gab jährliche Tagungen, und es wurde ein Ausbildungskonzept entwickelt, auch mit Praktika in Deutschland. Es gab abwechselnd mehr Fortschritt in Deutschland und in Österreich, und es war wichtig, sich in diesem Bereich gegenseitig zu ergänzen. Wenn heute ein neuer Pastoralassistent oder Priester einsteigt, macht er einen Kurs und einen Rundlauf mit Dienst in verschiedenen Gefangenenhäusern Österreichs, um verschiedene Methoden, Verpflichtungen und Freiräume kennenzulernen.

Sie haben hinter Gittern viele Gespräche geführt. Was macht Haft aus einem Menschen?
Eine kleine Gruppe der Menschen, die eingesperrt werden, kommt einmal und nie wieder. Das sind jene, die sagen: «Es reicht mir! Das war ein riesiger Blödsinn in meinem Leben.» Die größere Gruppe wird mit großen Schwierigkeiten entlassen: Die Wohnung, die Anstellung, die Familienbeziehungen sind verloren gegangen. Die stehen dann ganz unbeschützt, ohne Unterstützung im Leben und müssen neu starten. Dieser Neustart gelingt oft nicht, sodass ein Rückfall die wahrscheinlichere Variante ist. Eine dritte Gruppe – und das ist nicht so selten – sind Gefangene, die in Haft einiges dazulernen an Kriminalität. Schon in der Strafvollzugsanstalt werden Netzwerke gebildet, die am Tag der Entlassung zu arbeiten beginnen. Einer hilft dem anderen auf die Beine, um etwas Neues auszuhecken.
Sie haben viele Häftlinge auch nach der Haft begleitet. Was sind die wichtigsten Voraussetzungen, um wieder in ein sicheres Leben zu finden?
Es gibt viele Möglichkeiten, Menschen nach der Haft zu unterstützen. Das beginnt bei einer finanziellen Unterstützung. Nachhaltiger ist natürlich Beziehungsarbeit. Man führt die Beziehung zu Gefangenen, die man im Gefängnis aufgebaut hat, weiter. Nicht selten ist der erste Weg nach der Entlassung zum Pfarrer, um mit ihm die weiteren Schritte zu planen. Diese ersten Schritte waren dann zum Beispiel Empfehlungsschreiben oder Empfehlungsgänge zu Firmen, um eine Wiedereinstellung oder eine Ersteinstellung zu bewirken. In seltenen Fällen ging es auch um unmittelbare seelsorgerische Akte. Ich habe ehemalige Gefangene verheiratet, ich habe ihre Kinder getauft. Es waren bei wenigen persönliche Beziehungen, die sich über Jahre gehalten haben. Wichtig war in der Diözese auch eine gewisse Öffentlichkeitsarbeit in den Pfarren. Die kirchlichen Gemeinschaften bestehen oft aus der wohlbestallten Mittelschicht. Man scheut sich, Outsider wieder aufzunehmen. Hier muss der Weg für «gefallene Schäfchen» aufbereitet werden.

Corona entpuppt sich als Brennglas für soziale Probleme. Wie geht es Menschen hinter Gittern in Zeiten der Pandemie?
Zur Corona-Frage kann ich nur sagen, dass ich als ehrenamtlicher Mitarbeiter – ich bin ja mittlerweile nicht mehr hauptamtlich tätig – von der Leitung des Gefangenenhauses als Erster ausgeschlossen wurde. Ich habe keine Möglichkeit mehr, mit Gefangenen zu kommunizieren. Es wurden sofort sämtliche Besuche gestrichen. Es wurde die Kommunikation zwischen den einzelnen Stockwerken unterbunden. In der Zwischen-Corona-Zeit im Mai, Juni, Juli letzten Jahres wurden im Linzer Gefangenenhaus zwar Gottesdienste erlaubt, aber jeweils nur für ein Stockwerk. Manchmal hatte ich bei einem Gottesdienst zwei Gefangene und vier Beamte zur Bewachung. Momentan ist wieder gar nichts möglich. Ich kann mir schon vorstellen, dass die Bestrafung des Freiheitsentzugs doppelt erlitten wird, wenn kein Besuch kommen kann.

Hätten Sie einen Wunsch an Justizministerin Alma Zadić frei, welcher wäre das?
Mein wichtigster Wunsch wäre, mit der Freiheitsstrafe sorgsam umzugehen, die Zahlen wieder nach unten zu drücken. Österreich steht aktuell wieder vor dem Europäischen Menschengerichtshof, weil eine Frau, die eine Polizistin mit flacher Hand auf die Brust geschlagen hat, eingesperrt wurde, und zwar in der Anhaltung. Das ist keine Strafabsitzung, sondern eine Anhaltung wegen Gefährlichkeit der Person. Und wegen dieser Aktion sitzt diese Frau schon seit fünf Jahren in Anhaltung. Solche Fälle gibt es immer wieder. Ich denke, gerade diese «Anhaltung» müsste ungeheuer sorgsam behandelt werden. Die Leute dort haben überhaupt keine Chance, rauszukommen, wenn sich nicht wie in diesem Fall ein Rechtsanwalt um sie gekümmert hätte, wahrscheinlich auf Anraten einer Menschenrechtsorganisation. Also, runter mit den Zahlen! Es wird niemand besser, weil er eingesperrt ist. Und besondere Sorgfalt braucht es bei der Anhaltung von gefährlichen Rechtsbrechern.

Teilen Sie Brodas Vision einer gefängnislosen Gesellschaft?
Jein. Auch von Minister Broda war das ein Reizwort, das er bewusst in die Welt gesetzt hat. Dass eine Gesellschaft sich vor gefährlichen Leuten schützen muss, ist selbstredend. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Aber dass wesentlich mehr Alternativformen möglich wären, als gegenwärtig der Fall ist, ist auch eine klare Sache. Es gibt die Fußfessel, die ist schon ein Fortschritt, und auch Freigänger im Gefangenenhaus. Also, es ist nicht so, dass gar nichts geschehen würde, aber es ist ein Bruchteil dessen, was möglich wäre. Und wenn man bedenkt, dass ein Gefangener pro Tag Österreich 140 Euro kostet, könnte man um diesen Betrag auch eine gute Resozialisierung finanzieren, die nicht mit Freiheitsentzug gekoppelt ist.

Hans Gruber:
Beinahe lebenslänglich – 50 Jahre «Häfenpfarrer»
Wagner Verlag 2019, 252 Seiten, 23 Euro

Hans Gruber auf Radio Augustin:
https://cba.fro.at/497065

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