Indexierung der Familienbeihilfe
Viele EU-Bürgerinnen arbeiten als 24-Stunden-Betreuerinnen in Österreich. Seit der Indexierung der Familienbeihilfe haben die meisten weniger Geld für ihre Kinder zur Verfügung. Über Knochenjobs, Scheinselbstständigkeit und die Träume einer Betroffenen.
Text: Mareike Boysen, Foto: Nina Strasser
An einem Samstagabend um halb acht sind die kopfsteingepflasterten Straßen in einem der Villenviertel in Wien-Währing beinahe menschenleer. Aus dem Lift eines Mehrparteienhauses in der Messerschmidtgasse tritt schließlich eine Wienerin mittleren Alters heraus. «Sie wollen wohl zur Zwölf?», fragt sie.«Ich war die Fußpflegerin der alten Dame. Die beiden Frauen, die rothaarige und die blonde, waren immer sehr nett zu ihr.» Die Letztgenannte, Aurelia Stoian, öffnet kurz darauf die Tür im dritten Stock und führt in eine 40 Quadratmeter große Wohnung, deren Inventar auffällig sauber und geordnet ist. «Schön ruhig hier, oder?», fragt sie.
Pausenlose Betreuung.
Stoian ist Rumänin, 42 Jahre alt, ausgebildete Krankenschwester, wie sie sagt, Mutter dreier Jugendlicher und eine von etwa 68.000 Personen, die regelmäßig in Österreich als gemeldete 24-Stunden-Betreuer_innen tätig sind. Sie trägt halblange Haare, dezenten Goldschmuck und einen langen Kratzer am rechten Oberarm. Ihr T-Shirt ist mit der Aufschrift «Born to be extraordinary» versehen. Stoian hat auf dem türkisen Sofa im Wohnzimmer Platz genommen, das nachts zu ihrem Bett wird. «Manchmal hatte meine Patientin eine Krise», sagt Stoian, «dann hat sie mich beschimpft, gekratzt und geschlagen. Aber ich habe das verstanden, denn sie war krank. Sie hat vieles ohne Kopf gemacht.» Insgesamt, sagt sie, sei es ein guter Job für sie gewesen. Viel besser jedenfalls als der vorige bei einer Demenzkranken in Gars am Kamp, den sie 2016 antrat. Seit Jänner 2018 reist Stoian stattdessen nach Wien.
So auch vorgestern Morgen, als sie im 750 Kilometer entfernten Alba Iulia, einer Kreisstadt in Zentralrumänien mit 64.000 Einwohner_innen, in den Flixbus eingestiegen ist. Während der Fahrt erreichte sie ein Anruf: Frau B. sei verstorben, sagte ihr die rothaarige slowakische Kollegin, mit der sich Stoian bis dahin im Drei-Wochen-Turnus abgewechselt hatte. Sie solle trotzdem kommen, wenigstens für zwei Wochen, und erhalte auch ihren Lohn. «Die Tochter von meiner Patientin wollte es so», erklärt Stoian. Gestern und heute habe sie eingekauft, geputzt und gekocht. «Wie immer», sagt sie.
Legalisierte Scheinselbstständigkeit.
Frau B., Stoians Patientin, ist mit 94 Jahren an den Spätfolgen einer Dünndarmoperation gestorben. In den letzten Monaten sei sie bettlägerig gewesen, Stoian habe sie mit püriertem Gemüse und Kompott gefüttert, sie gewaschen, umgezogen, Windeln und Bettpfannen gewechselt. «Am Nachmittag haben wir gemeinsam Tierfilme angesehen», sagt Stoian. «In der Nacht hat sie nicht immer geschlafen, sondern viel geredet. Dann habe ich versucht, sie zu beruhigen. Das hat nicht immer funktioniert.» Das Haus habe Stoian nur verlassen, um am Morgen in den Supermarkt zu gehen, oder wenn B.s Tochter zu Besuch gekommen sei. Roland Loidl, Leiter der Agentur, die Stoian an diesen Standort vermittelt hat, ist in der Zwischenzeit in der Wohnung eingetroffen und nickt. «Das war ein brutal harter Job», sagt er und vergrößert auf dem Bildschirm seines Smartphones ein Foto von B.s offener Bauchwunde. «Die Dame hatte Pflegestufe sechs, hätte aber die höchste, also sieben, haben müssen.»
Im österreichischen Pflegesystem gilt das Prinzip gestaffelter Geldleistungen, das je nach Progression der festgestellten Bedürftigkeit des_der Patient_in Kostenzuschüsse zwischen 157,30 Euro und 1688,90 Euro monatlich vorsieht; Patient_innen mit Pflegestufe sechs stehen 1285,20 Euro zu. Der Staat forciert damit die informelle Pflege in Privaträumlichkeiten. Um den zunehmenden undokumentierten Beschäftigungsverhältnissen in diesem Bereich entgegenzuwirken, führte man 2008 den Berufsstand der «selbstständigen Personenbetreuer_innen» ein. Stoian und ihre Kolleg_innen werden von der Wirtschaftskammer Österreich seitdem als sogenannte «Ein-Personen-Unternehmen» geführt. Damit macht Österreich sie zu Scheinselbstständigen, zumal ihre Vermittlung über Agenturen erfolgt, die zumeist in den Heimatländern Rumänien, Ungarn oder der Slowakei ansässig sind und von den Vermittelten regelmäßig Provisionen sowie unregelmäßig Gebühren fordern. Die rumänische Krankenschwester Elena Popa prangerte die Arbeitsbedingungen der 24-Stunden-Betreuer_innen in Österreich und Deutschland im vorvergangenen Jahr öffentlich an, sprach von Machtmissbrauch, emotionaler Erpressung und «modernem Sklaventum». Eine Agentur verklagte sie daraufhin wegen Rufmordes. Popa wurde in Temeschwar in erster Instanz zu einer Geldstrafe in Höhe von 50.000 Euro verurteilt und ging in Berufung.
Beihilfenkürzung.
Über ihren Stundenlohn möchte Stoian, so scheint es, ungern nachdenken. Bei ihrer vorigen Patientin in Gars, Pflegestufe fünf, hatte sie einen Tagessatz von 40 Euro erhalten, in Wien waren es 70. Nach Abzug des SVA-Beitrags und der Vermittlungsprovision blieben ihr pro dreiwöchigem Einsatz etwa 1300 Euro Lohn, rechnet Stoian vor. «Wenn man drei Kinder hat, von denen zwei noch zur Schule gehen, ist das wenig», sagt sie. Da ihr Mann als Chauffeur in Rumänien schlecht verdiene, blieben die Kosten für die Schulbücher und den Schulbus an ihr hängen.«Meine Tochter will außerdem Lehrerin werden», sagt Stoian. «Das Studium ist sehr teuer. Also muss ich noch für mindestens drei Jahre hierher kommen, um Geld zu verdienen.» Im Gegenzug hätten ihr die Kinder versprochen, die Finger vom Alkohol und den Zigaretten zu lassen. «Das glaube ich ihnen», sagt die Mutter und wischt durch Selfieaufnahmen, die sie per WhatsApp erhalten hat. Der 19-jährige Johann, ihr Ältester, habe gerade eine Lehre zum Koch abgeschlossen, wodurch sein Anspruch auf Kindergeld erloschen ist. Für Maria Magdalena und Josef steht Stoian seit 1. Jänner nicht einmal mehr die Hälfte des österreichischen Familienbeihilfesatzes zu. Statt insgesamt 414 Euro sind es nun etwas mehr als 200, der Kinderabsetzbetrag eingerechnet.
Rund 125.000 Kinder, so lauten die Schätzungen, sind von einer gesetzlichen Maßnahme betroffen, die von der damaligen ÖVP-Familienministerin Juliane Bogner-Strauß als ein Akt der «Gerechtigkeit» verteidigt wurde. Die sogenannte Indexierung der österreichischen Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder von hier beschäftigten EU- und EWR-Bürger_innen nimmt eine Anpassung der Beträge an Lebenshaltungskosten und Kaufkraft im jeweiligen Herkunftsstaat vor. Statt 114 Euro für das erste Kind erhalten Rumän_innen nun 56, Slowak_innen 73, Ungar_innen 62 und Bulgar_innen 51 Euro monatlich. Die Regierung unter Sebastian Kurz stützte die behauptete Vereinbarkeit mit europäischem Recht auf ein Gutachten des Arbeits- und Sozialrechtlers Wolfgang Mazal, der den Auftrag zur Erstellung seinerseits vom damaligen Bundeskanzler Christian Kern bekommen hatte.
Zeit ist Geld.
«Mir ist kein Kollege bekannt, der zur gleichen Einschätzung gekommen wäre wie Herr Mazal», sagt Franz Leidenmühler, Vorstand des Instituts für Europarecht an der Johannes-Kepler-Universität Linz. «Sonnenklar» sei es seiner Einschätzung nach, «dass die Indexierung aus mehreren Gründen gegen das Unionsrecht verstößt. Die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sagt, Kinder sind so zu behandeln, als ob sie im gleichen Land wie die Eltern leben würden. Außerdem verbietet die Arbeitnehmerfreizügigkeit jede Diskriminierung.» Das Vertragsverletzungsverfahren, das die Europäische Kommission Ende Jänner gegen Österreich einleitete, habe Leidenmühler daher nicht überrascht. «Der erste Schritt des Verfahrens ist ein Mahnbrief an den betroffenen Mitgliedsstaat, der sogenannte ‹blaue Brief aus Brüssel›», erklärt er. Da weder Österreichs Rechtfertigungsschreiben habe überzeugen können noch Korrekturmaßnahmen gesetzt worden seien, klagte die Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. «So ein Verfahren dauert etwa eineinhalb Jahre», sagt Leidenmühler.«Wenn der EuGH entscheidet, dass Österreich gegen das Unionsrecht verstoßen hat, dann haben Geschädigte das Recht, in einem Amtshaftungsverfahren Schadenersatz einzuklagen. Das kann für die Republik noch eine teure Angelegenheit werden.»
Für Aurelia Stoian und ihre Kolleg_innen bedeutet diese Aussicht einmal mehr: Warten. Da sich das für sie zuständige Finanzamt mit jedem Einsatzort ändert, sind Stoian die Familienbeihilfebeträge der vergangenen eineinhalb Jahre bis heute nicht ausgezahlt worden. «Immer, wenn ich nachfrage, heißt es nur, es dauert noch». Inzwischen hat sie eine Patientin in Linz übernommen, deren Angehörige ihr weniger zahlen, als sie es sich erhofft hatte, sagt sie. Auf die Frage danach, welche Art von Job sie in der Heimat antreten möchte, sobald die Tochter das Studium abgeschlossen hat, überlegt sie eine Weile. «Vielleicht etwas mit Blumen.»