Euch die Macht? Uns die Nacht!tun & lassen

Der Aufstand gegen ein neues, «geschmeidigeres« Arbeitsrecht

Vielleicht ist es naiv, von Volkswirtschafter_innen und Wirtschaftsjournalist_innen zu verlangen, Partei für die benachteiligten sozialen Gruppen zu ergreifen. Eine gewisse Neutralität darf man sich von ihnen schon erwarten? Österreichs Wirtschaftsredaktionen arbeiten den Unternehmer_innen zu und nicht den Unternommenen. Einer aus diesen Redaktionen, Jakob Zirm von der «Presse», beschimpfte vor ein paar Tagen die Besetzer_innen französischer Stadtplätze, die «Nuit debout»-Bewegung («Aufrecht durch die Nacht»), als ökonomische Ignorant_innen. Von Robert Sommer.

Foto: Olivier Ortelpa / flickr / Wikipedia

Es scheine sich bisher noch kein einziger Wirtschaftsstudent «unter die Protestierer verirrt zu haben», mutmaßt Zirm. Andernfalls müsste die Bewegung ihre sofortige Selbstauflösung bekannt geben, weil sie erkannt habe, dass sie durch ihren altmodischen Widerstand Reformen verhindere, die den jungen Platzbesetzer_innen eigentlich helfen würden. Gerade wegen der Präsenz hunderter oder sogar tausender Ökonomie-Studis in der Bewegung, die allerdings ihr Studium nicht als Einübung in die Varianten des Neoliberalismus-Lobbying begreifen, wissen die Beteiligten außergewöhnlich gut Bescheid über die «Arbeitsrechtsreform», die seit Anfang März Schüler_innen, Student_innen und Arbeiter_innen auf die Straße treibt. Die Schlagzeile über dem überheblichen Artikel des «Wirtschaftsexperten» – «Aufrecht gegen sich selbst» – ruft Hohn hervor.

Begonnen hat es mit der Place de la République in Paris, vor Redaktionsschluss sind Plätze in mehr als 60 französischen Städten jeweils bis spät in die Nacht in der Hand der unhierarchisch strukturierten Unzufriedenen. Was die Besetzer_innen von Frankreichs Plätzen vor allem im Auge haben, ist der Artikel 30 des Entwurfs des neuen Arbeitsrechts von Premierminister Manuel Valls, eines Politikers der Sozialistischen Partei. Er definiert die Regeln für das Entlassen von Arbeitskräften neu: im »ökonomischen Sinn«, sagt Valls. Was er «Geschmeidigkeit» und «Flexibilität» nennt, heißt für die heutigen und zukünftigen Lohnabhängigen: Unternehmen, die mehr als zwei Monate lang keinen Gewinn schreiben, können ihre Mitarbeiter_innen problemlos entlassen. Das soll auch für Großkonzerne gelten, die auf internationaler Ebene Milliarden einfahren (die sie gerne in Steueroasen verschwinden lassen) und sich «unrentabler» französischer Filialen entledigen wollen.

Man müsse den Konzernen die Möglichkeit geben, die Werktätigen unbürokratisch zu kündigen, dadurch haben die Firmen weniger Angst, Leute anzustellen – dieses Märchen grassiert immer noch, und Kollege Zirm verleiht ihm ein wissenschaftliches Mäntelchen: Ein Kündigungsschutz für Fixangestellte bedeute automatisch die Prekarisierung der nicht Fixen. Jakob Zirm hat lauter solche Mythen auf Lager: Die Pensionen von morgen werde von den Kindern von heute gezahlt, meint er. Kinderlose profitierten also vom Nachwuchs anderer Leute, man müsse sie demnach stärker besteuern. Eine weitere Zirm-Legende: Angesichts steigender Lebenserwartung führe kein Weg an der Anhebung des Pensionsantrittsalters vorbei. Dieses sollte automatisch an die Lebenserwartung gekoppelt werden, «auch wenn dies von Gewerkschaft und Pensionistenvertretern dank tausender Wählerstimmen im Rücken seit Jahren verhindert wird».

An der Place de la République werden solche Plattitüden wohl nicht einmal für Kabarettprogramme mehr hervorgeholt. Zwar sind die meisten «Aufständischen der Nacht» Mitglieder der urbanen Mittelschicht, aber sie erkennen, wie der Kapitalismus funktioniert. Viele von den Platzbesetzer_innen sind auch bereit, sich mit den Organisationen der Arbeiter_innenklasse zu verbünden. «Presse»-Zirm ortet «schmachtende Reminiszenzen an den Mai 1968». Die Pariser Mai-Demonstration 2016, die seit Jahren nicht mehr so «jugendlich» war, ließ die Ahnung hochkommen, dass ein gemeinsamer Versuch zwischen traditionellen Werktätigenorganisationen und neuer sozialer Bewegung, sich auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, möglich wäre. Die Losungen und vor allem die massive Beteiligung jüngerer Leute zeugte von der Bereicherung der Gewerkschaftsdemos durch die Bewegung «Nuit debout». Christophe Aguiton, Mitbegründer der alternativen Gewerkschaft SUD, äußerte in einem Zeitungsinterview seine Überzeugung, dass die vor allem von jungen Leuten getragene basisdemokratische Bewegung dem Kampf der Gewerkschaften neuen Elan verleihen könne, wenn die diese Herausforderung von der Straße ernst nehmen und darauf eingehen.

 

«Die Lautsprecher dem Volk!»

In vielem erinnert die «Nuit debout»-Bewegung an Occupy Wallstreet (2011). Die US-amerikanische Aktivistin Marisa Holmes, die in beiden Bewegungen tätig war/ist, kommt in der deutschen anarchistischen Zeitung «Graswurzelrevolution» zu Wort. Seit Ende März 2016 – dem Beginn der großen Demonstrationen von Arbeiter_innen und Jugendlichen gegen das neue Arbeitsgesetz der Regierung Hollande – experimentieren Tausende in Frankreich mit neuen Formen der öffentlichen Diskussion, staunt die teilnehmende Beobachterin. Die Bewegung «Nuit debout» sei auch ein Ausdruck des Bedürfnisses nach basisdemokratischen Diskussionen und Entscheidungsstrukturen von unten, von Angesicht zu Angesicht, des Bedürfnisses nach direkter Demokratie.

Marisa Holmes, Mitte April 2016: «Am Montag kamen die Menschen auf der Place de la République wieder zusammen, um diesen Raum zu verteidigen, auf dem sie zusammen gecampt, für alle Essen gekocht und öffentliche Diskussionen geführt hatten. Die Nacht davor hat die Polizei den Platz geräumt, die Zelte abgerissen, aber Hunderte AktivistInnen sind zurückgekommen. Nun stand der Diskussionshelfer auf und erklärte, dass die Polizei gerade die Lautsprecheranlage konfisziert hatte. Die Menschen nahmen das nicht hin und begannen zu skandieren: Der Lautsprecher dem Volk! Und sie bewegten sich auf die Polizeireihen zu. Hunderte kamen von der Versammlung herüber und umringten die Polizeiwannen – und sie nahmen sich ihr Lautsprechersystem zurück. Dieses Lautsprechersystem, das Mittel, das die Stimmen der Sprechenden verstärkt, ist vielleicht das typische Symbol dessen, was auf der Place de la République passiert. Nuit debout ist ein führungsloses und spontanes Ereignis. Niemand kontrolliert es. Trotzdem gibt es einige der engagiertesten Organisator_innen, die zugleich bei der ‹Kommission für Diskussionshilfe bei der Vollversammlung› mitmachen. Bei deren Treffen gibt es eine ständige Diskussion über die Bedeutung des Begriffs Demokratie. Die beteiligten Leute interessieren sich für das Experimentieren mit anderen Formen kollektiver Entscheidungsfindung, nämlich direkten und partizipativen Formen. Es gibt keine vorbereitete Tagesordnung für die Vollversammlung. Die Leute, die am gegebenen Abend präsent sind, entscheiden darüber, was diskutiert wird.»

Vielleicht hat der «Experte» von der «Presse» inzwischen mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, dass «Nuit debout» auch von links kritisiert wird. Verdächtig scheint aus einem solchen Blickwinkel, dass laut Selbstdefinition die Bewegung nicht in Paris geboren wurde und nicht in Paris sterben werde. Der Arabische Frühling, die Bewegung 15M, der Aufstand am Tahrir-Platz und im Gezi-Park, der Place de la République und zahlreiche weitere besetzte Plätze heute Abend in Frankreich seien «Illustration desselben Zornes, derselben Hoffnungen und derselben Überzeugung: Die Notwendigkeit einer neuen Gesellschaft, oder Demokratie, Würde und Freiheit sind keine leeren Versprechungen.». Die Referenzen auf den Arabischen Frühling und die weiteren Rebellionen verweisen auf Bewegungen, die von US-amerikanischen Stiftungen unterstützt wurden, lautet die Kritik. Hinter diesen Referenzen, wie auch vielen anderen, finde man ein und denselben Organisator: Die Truppe von Gene Sharp, einstmals «Albert Einstein Institution» genannt und heute «Centre for Applied Nonviolent Action and Strategies» (CANVAS). Dieses sei Teil jenes Amalgams mehr oder weniger unabhängiger Think-Tanks zur sogenannten «externen Demokratieförderung», die in erster Linie die Aufgabe hätten, sozialistische, linkspopulistische, tatsächlich linke oder antiamerikanische Regierungen zu destabilisieren.

Es ist anzunehmen, dass die tausenden Aktivist_innen dieser inzwischen aus Frankreich nach anderen Ländern hinüberschwappenden Bewegungen in solchen skeptischen Stimmen die sprichwörtlich kläffenden Dackel sehen, an denen die Karawane vorüberzieht. Ganz ohne Grund kläffen freilich Dackel nie.