Europe at workDichter Innenteil

Ob die Richtung stimmt? (Foto: Mario Lang)

Herr Groll auf Reisen. 353. Folge

«Obwohl wir alle es längst wissen sollten, verspüre ich das Bedürfnis, mit Ihnen, geschätzter Freund, eine vertiefenden Blick auf die Prozesse im politischen Überbau Europas zu werfen», sagte der Dozent vor dem Café Westend zu seinem Freund. «Ich werde das anhand dreier Erzählungen machen, die unterschiedlichen Sphären angehören. Sie werden ein Schlaglicht auf die europäischen Verhältnisse werfen. Nicht, dass es in anderen Weltgegenden besser läuft, aber wir haben das Studienobjekt Europa vor uns, und wer sich der schweren Arbeit der Kritik unterzieht, soll vor der eigenen Tür kehren.»

Herr Groll legte die Wiener Heurigenzeitung beiseite und war ganz Ohr.

«Betrachten wir zuerst die Lage der Frauen in Österreichs Politik», sagte der Dozent. »Bekanntlich besetzen Frauen in den Leitungsfunktionen der Konzerne nach wie vor nur wenige Positionen, so dass man sie als Exotinnen bezeichnen muss. Die männerbündischen Parteien halten in dieser Frage wie Pech und Schwefel zusammen. Die oberösterreichischen ÖVP/FPÖ-Regierungsparteien kamen im Landtag gänzlich ohne Frauen aus, mittlerweile durfte eine Mandatarin nachrücken. Als frauenfeindliche Parlamentspartei schickt die FPÖ drei männliche Politleuchten ins Europäische Parlament. Schließlich sind die drei größten Parteien nicht willens, zumindest eine weibliche Nachfolge in der Volksanwaltschaft zu gewährleisten. Stattdessen schicken sie drei dröge Apparatschiks in das volksanwaltschaftliche Ausgedinge und beschädigen diese wichtige Kontrollinstanz nachhaltig.»

«Aber immerhin gibt es jetzt eine weibliche Kanzlerin und eine Parität bei den Ministern und Ministerinnen», warf Herr Groll ein.

«Das aber ist das alleinige Verdienst des Bundespräsidenten», konterte der Dozent. Man kann und darf das nicht den drei traditionellen Parteien gutschreiben. Dass auch die SPÖ jetzt eine Parteichefin hat – von selbst betroffenen Behindertensprecher_innen ist die Partei immer noch weit entfernt – ist dem Absturz der einst stärksten Sozialdemokratie der Welt zuzuschreiben. Im übrigen ergeht es Frau Rendi-Wagner in der Partei so wie elf Jahre zuvor der Kärntner Parteivorsitzenden Gabriele Schaunig. Wurde diese von den mächtigen männlichen SPÖ-Bürgermeistern Manzenreiter (Villach), Mock (St. Veit), Seyfried (Wolfsberg) und Köfer (Spittal) im Verein mit dem offen frauenfeindlichen Landeshauptmann Haider zum politischen Abschuss freigegeben, diffamiert, bedroht und gedemütigt, so rudert die urbane Intellektuelle Rendi-Wagner von einem missglückten Pressetermin zum nächsten. Dass das mediale Bild der fortschrittlichen Medizinerin so beklagenswert ist, hat aber nichts mit ihr, sondern alles mit ihren männlichen Beratern und Spin-Doktoren zu tun. Und in ihrem Rücken lauern gut genährte, mächtige Parteifreunde namens Ludwig, Doskozil und Katzian darauf, dass sie den letzten Schritt auf den klaffenden Abgrund zugeht.»

Herr Groll schüttelte den Kopf. «Es ist eine Schande, dass Rendi-Wagner von den Frauen ebenso im Stich gelassen wird wie seinerzeit Gabriele Schaunig in Kärnten. Im übrigen weise ich darauf hin, dass sowohl Rendi-Wagner als auch Schaunig das Studium mit dem Doktortitel abgeschlossen haben, was man von den wenigsten ihre männlichen Kollegen sagen kann.»

«Ergänzung angenommen», sagte der Dozent. «Frauen müssen doppelt so gut sein wie Männer, wenn sie eine Chance auf Leitungspositionen haben wollen. Kommen wir zu unserer nächsten Erzählung. Sie spielt in Deutschland. Dort strahlte der Sender RTL 2017 einen Bericht über die Misshandlung behinderter Menschen aus. In einem verdeckt angefertigten Video aus einer Lebenshilfe-Werkstatt schikanierten Betreuer behinderte Frauen. Ein Mädchen, das nicht sprechen konnte, wurde wie ein Hund behandelt, man ließ sie stolpern und stürzen. Niemand half. Die Kölner Staatsanwaltschaft erhob Anklage, die meisten Punkte wurden ausgeschieden, lediglich in einem Fall kam es zu einer Verurteilung. Das fortgesetzte, gemeine Quälen von behinderten Frauen wurde mit der horrenden Strafe von 2.400 Euro sanktioniert.»

«Das kommt einer Aufforderung gleich, die Folterpraxis fortzusetzen», sagte Groll mit vor Zorn bebender Stimme.

Er teile diese Einschätzung, meinte der Dozent und legte die dritte Erzählung vor: «Die höchsten Vertreter der EU-Staaten kamen am 20. Juni 2019 überein, das Ziel der Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 abzulehnen. Vor allem Polen, aber auch Ungarn, Tschechien und Estland blockierten den Entwurf zur Bekämpfung der Klima-Krise und verlangten im Gegenzug unverschämterweise noch mehr Geld von der EU.

Ziehen wir also das Fazit: Wie stellt sich dieser Ausschnitt aus dem europäischen Alltag dar? Wer gewinnt, untersuchen wir das nächste Mal, wer auf der Strecke bleibt, liegt auf der Hand.»

«Frauen, behinderte Menschen und die Natur», sagte Groll bitter.

Er könne es nicht trefflicher formulieren, antwortete der Dozent.

Die beiden setzten den Weg zum Westbahnhof fort und schickten sich an, den Europaplatz zu queren.

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