Expedition durch ZagrebDichter Innenteil

Herr Groll auf Reisen. 191. Folge.

Mit kraftvollen Armstößen beschleunigte Groll den Rollstuhl. Das Palais Strossmayer zur Linken und den Park mit der St.-Tomislav-Statue zur Rechten, arbeitete er sich ins Stadtzentrum vor.Obwohl das Terrain leicht anstieg, kam Groll gut voran, querende Straßen waren infolge der vorbildlichen Abschrägungen kein Problem, er konnte den einmal eingeschlagenen Rhythmus gut beibehalten. Das war auch notwendig, denn Groll hatte Verspätung. In fünf Minuten sollte er am Hauptplatz Zagrebs, dem Jelai-Platz, am Fuße der martialischen Reiterstatue des Schlächters der 48er-Revolution in Wien auf den Dozenten warten. Die beiden hatten getrennte Wege eingeschlagen, um Zagreb zu erkunden. Die Oberstadt (Gornji Grad) war für Rollstuhlfahrer wegen des Kopfsteinpflasters nicht zugängig, also hatte der Dozent die Erkundung dieses Teils der Stadt übernommen. Groll sah sich im neueren Teil Zagrebs, dem Straßengeviert am Fuß der Oberstadt um. Die Donji Grad bestand überwiegend aus repräsentativen Gebäuden der neoklassizistischen Periode, dazu kamen noch die eine oder andere Baulichkeit aus dem Barock und Bauten der Neuen Sachlichkeit sowie der sozialistischen Moderne der fünfziger und sechziger Jahre. Großstädtische Straßenzüge wechselten mit engen, kleinteiligen Quartieren, die Anordnung in einem Schachbrettmuster wurde aber nirgendwo durchbrochen. Zum Teil wiesen die Gründerzeitbauten herabgekommene Innenhöfe mit Pawlatschen auf, wie Groll sie von Belgrad und Bukarest kannte. In den oftmals schäbigen Höfen waren kleine und enge Wohnungen wie Hühnerboxen in einem Großstall aufgereiht. Die Phalanx der offiziellen Gebäude hatte auf Groll weniger einschüchternd als langweilig gewirkt, daher war er in zwei Örtlichkeiten ausgewichen, die Abwechslung versprachen, ins neue Sheraton-Hotel und in den alten Hauptbahnhof.

Im pompösen Sheraton gelang es ihm endlich, eine «Herald Tribune» zu «organisieren», die an der Bar auflag. Anderswo waren in Zagreb europäische Zeitungen nicht zu bekommen, selbst an Ansichtskarten herrschte Mangel. Auch eine Behindertentoilette war im Sheraton vorhanden. Im Foyer war Groll Zeuge einer seltsamen Szene geworden. Ein dicker, alter Mann saß, einem Pascha gleich, schnaufend in seinem Lederfauteuil und steuerte mit knappen Gesten eine geschäftliche Besprechung. In devoter Haltung näherten sich nacheinander Männer in dunklen Anzügen und mit schmalen Aktentaschen, für kurze Zeit durften sie dem Paten gegenüber auf einem klapprigen Stuhl Platz nehmen, worauf sie dem schwitzenden Alten, dessen Stirn regelmäßig von einem hünenhaften Leibwächter mit einem Taschentuch abgewischt wurde, Papiere vorlegten. Während der Pate die Unterlagen studierte, wanden sich die Bittsteller auf ihrem harten Stuhl wie Aale auf dem Land und warfen ängstliche Blicke auf den wulstlippigen Koloss. Sobald er mit einem Papier fertig war, nickte er knapp, worauf die Petenten erleichtert aufatmeten und sich unter Verbeugungen zurückzogen. Wenn er aber den Kopf schüttelte, was häufig der Fall war, drohten die Bittsteller in der Erde zu versinken. Hastig griffen sie nach ihrem Papier, klammerten die Aktentasche an sich und trollten sich. Einmal gewahrte Groll, dass der Alte einen schmächtigen Mann mit zwei Worten anschnauzte, worauf der wie vom Blitz getroffen hin und her schwankte, bis der Gottähnliche sich angewidert von dem menschlichen Geschmeiß abwandte. Der alte Mafioso hatte eine unangenehm hohe Stimme. Als die Leibwächter bemerkten, dass Groll ihren Boss beobachtete, tuschelten sie kurz miteinander, worauf einer sich näherte und in amerikanischem Englisch fragte, ob er Groll auf einen Drink einladen dürfe, am anderen Ende der Lounge, wie er hinzusetzte. Groll verstand. Er verneinte dankend und verließ mit einem Kopfnicken in Richtung des Kolosses die Szene. Zu Grolls nicht geringem Erstaunen nickte der große Alte ihm freundlich zu. Vor dem Hoteleingang wich Groll einer Zwölfzylinder-Limousine einer deutschen Nobelmarke aus, ein Chauffeur saß hinter dem Steuer, der Wagenschlag wurde von einem Leibwächter offen gehalten, der Motor lief.

Danach war Groll zum Bahnhof weitergerollt und hatte sich in den dreißiger Jahren wiedergefunden. Ein dreckstarrendes, dunkles Loch mit einer vorsintflutlichen Zugbewegungstafel. Ganze sechzehn Züge gingen von hier tagsüber in die Provinz ab. Nur zwei Züge überschritten die Grenze, einer nach Salzburg/München, einer nach Ljubljana. Am Vortag hatte Groll in seinem Hotel einen Universitätslektor für Germanistik aus Osijek kennengelernt, der darüber Klage führte, dass die Regierung eine Eisenbahnlinie nach der anderen aus Spargründen einstelle. Da Autos infolge der Zölle und der horrenden Benzinpreises nur für Großverdiener zu halten seien, sei der Verkehr nach Slawonien und Mittelbosnien fast zum Erliegen gekommen. Endlich verstand Groll, warum tags zuvor die Autobahn von Zagreb nach Belgrad nahezu leer gewesen war.

Groll erhöhte das Tempo. Minuten später bog er um eine Häuserecke und fand sich auf dem Hauptplatz wieder. Vom Dozenten war nichts zu sehen.

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