Zum 100. Geburtstag des Wiener Historikers Friedrich Heer
Am 10. April wäre Friedrich Heer, der große linkskatholische Historiker, 100 Jahre alt geworden. Ariane Ehlmaier-Heilingsetzer, die Autorin der folgenden Hommage an einen Nonkonformisten, stammt aus einer Familie, deren Schicksal eng mit der Familie Heer verbunden war. Ihre Großmutter Edith, verheiratet mit dem Kurzzeit-Finanzminister Eduard Heilingsetzer, zählte wie der Psychotherapeut und Kunstsammler Wilfried Daim und der Religionssoziologe August Maria Knoll zum Kreis der österreichischen Intellektuellen um Heer. Ein Kreis, der beiden politischen Lagern gleichermaßen suspekt war …
Foto: ÖNB
Meine Großmutter hatte Friedrich Heer über die Familie Marboe kennengelernt, die mit diesem seit langem befreundet war. Marboe war der Vater des verstorbenen Fernsehintendanten Ernst Wolfram und des Kulturstadtrats Peter Marboe. Für die Marboes war Heer der «Onkel Fritz», und man hielt große Stücke auf ihn. Er hatte etwa auch die Grabrede für den 1957 mit nur 48 Jahren viel zu früh verstorbenen Ernst Marboe gehalten. Den Leiter der Bundestheaterverwaltung hatte mein Großvater beruflich wie privat schätzen gelernt.
Friedrich Heer galt in Wien als umstritten, das lag wohl daran, dass er nach 1945 einer der wenigen war, der die Mitverantwortung der katholischen Kirche am Nationalsozialismus beim Namen nannte und dem Antisemitismus österreichischer Prägung den Kampf ansagte. Auch in den eigenen Reihen legte er sich mit den ewigen Antisemiten an und kritisierte heftigst den sogenannten Arierparagraphen (Mitgliedschaft nur für «deutsche» Katholiken), der im CV (Cartellverband, Akademikerbund der ÖVP) weiterhin praktiziert wurde. Diese Aussage über den Arierparagraphen würde ein «CVler» freilich heftig bestreiten, es sei vielmehr so, dass nur das «Katholizitätsprinzip» gelte und man d e s h a l b keine Juden aufnehmen könne. Was unter dem Zusatz «deutsch» dann zu verstehen sei, der auch in den Satzungen stand, das bleibt in vielen Diskussionen offen.
Heers schärfster Gegner: Unterrichtsminister Drimmel
Friedrich Heer sollte zwar Zeit seines Lebens dem CV treu bleiben, der ja meist allen möglichen Karrieren die Türen öffnete, aber in seinem Fall blieben sie verschlossen: Der als reaktionärer Hardliner berüchtigte Unterrichtsminister Heinrich Drimmel etwa soll ihm ein erbitterter Gegner gewesen sein. Das lag vor allem daran, dass Heer bereits 1949, also mitten im Kalten Krieg gegen den Kommunismus, äußerst unpopulär zu einem «Dialog mit dem Feind» aufgerufen hatte, was Drimmel dazu veranlasste, auf die Frage eines Journalisten: «Wann wird der Heer Ordinarius?» mit dem kolportierten bösen Wort zu antworten: «Dann, wann die Bolschewiken kommen!»
Heer selbst blieb Angreifern gegenüber immer höflich, hatte sich aber eine, nicht ganz ernst gemeinte, Erklärung für die «Hinterhältigkeit und depressive Bosheit der Wiener» zurechtgelegt: Die Zustände bei der seinerzeitigen Türkenbelagerung seien so grässlich, die Wiener derartigen Gewaltexzessen und Grausamkeiten ausgesetzt gewesen, dass sie das dadurch entstandene Trauma über Generationen hinweg nicht hätten abbauen können. Auch mit dieser Aussage machte er sich selbstverständlich wenige Freunde. So wartete der renommierte Historiker (der sich einst auf das Mittelalter spezialisiert hatte) und spätere Redakteur der katholischen Wochenzeitschrift «Die Furche» vergeblich auf eine ordentliche Professur an der Universität. Er erhielt nur als außerordentlicher Professor vorübergehend eine Lehrstelle und hielt in den 1960er-Jahren Vorlesungen über Hitler. Er war einer der wenigen (abgesehen von den Kommunisten), die sich damals in Wien trauten, diese Thematik anzuschneiden.
Viele Studenten waren von seinen Vorlesungen begeistert, so auch mein späterer Zeitgeschichte-Professor Anton Staudinger, der sich auch an andere damals unübliche Themen erinnert, wie etwa eine Lehrveranstaltung über Bachofens «Mutterrecht». Andere wiederum attestierten ihm weniger wohlwollend einen viel zu konfusen Vortrag. Irgendwie war der eigensinnige, geniale Gelehrte wohl jemand, der es niemandem recht machen konnte oder wollte: Während er in den konservativen Kreisen der Wiener Nachkriegsgesellschaft ungehörig aneckte, wurde er ebenso von politisch linksstehender Seite heftig kritisiert, etwa weil er letztendlich doch trotz seiner harten Auseinandersetzungen nie aus dem mächtigen CV ausgetreten war, oder weil er auch wiederholt in den 1970ern den Austrofaschismus (1933/34–1938) verteidigt hatte, der ein Versuch gewesen sei, Österreich vor den Nationalsozialisten zu schützen (eine Interpretation, die sich übrigens auch in der «Dritten Walpurgisnacht» von Karl Kraus findet, aber der schrieb das 1933 als Zeitgenosse, Heer hingegen bereits als reflektierender Zeithistoriker).
Dieses verzweifelte «Ruft‘ s mich doch an»
Eine gewisse Parteilichkeit für das bürgerliche Lager war ihm wohl trotz allem nicht abzusprechen, und so gewährte ihm dieses halt seine bürgerlichen Nischen, wo der Unangepasste ungestört seinen Forschungen nachgehen konnte. So landete Friedrich Heer im Laufe der Jahre, ca. ab 1961, in einem Abstellraum, nein, es war eigentlich das Dachzimmer, des Burgtheaters als Dramaturg. Er hatte eine fixe Anstellung mit wenig Beschäftigung und seine Ruhe. Diese zwiespältige, isolierte Situation scheint ihm aber nicht bekommen zu sein, zumal er ein Mensch war, der viel Kommunikation brauchte. Mein Vater erzählt, wenn das Gespräch auf Friedrich Heer kommt, gerne folgende Anekdote: Dieser habe sein Gegenüber immer mit seinen großen Glubschaugen fixiert und beim Abschied förmlich gebettelt: «Ruft‘ s mich doch an!»
Dieses verzweifelte «Ruft‘ s mich doch an» wurde eine stehende Redewendung in unserer Familie, freilich als Parodie. Sein enger Freund Wilfried Daim, Psychotherapeut, soll Heer sogar einen «Beziehungswahn» attestiert haben.
Wie auch immer, ob nun seine Psyche oder seine Mitmenschen ihm Probleme machten, auf jeden Fall sollte er nicht alt werden: Er starb bereits mit 67 Jahren an Krebs.
Wie er selbst gerne erzählte, habe er zwei verschiedene Arten von Blutkrebs gehabt, die sich gegenseitig in Schach gehalten hätten, diesem Umstand hätte er ein relativ längeres Überleben zu verdanken. Und einer gewissen Hypochondrie, die sich dann für den Schwerkranken auch als lebensverlängernd auswirken sollte: Dazu gibt es eine bizarre Geschichte, die das schön illustriert. Der Sozialphilosoph Norbert Leser war einmal mit einem jungen Studenten 1981 Friedrich Heer im Burgtheater besuchen – der hatte dort als Dramaturg gerade Journaldienst. Heer führte sie in seine düstere Stube, die Lampe beleuchtete nur sein weißes Gesicht, das bereits von schwerer Krankheit gezeichnet war. Als der etwas verkühlte Student ein wenig hüstelte, setzte ihn Heer, aus Angst vor einer Ansteckung, kurzerhand weit weg auf einen Sessel neben die Eingangstür, in den äußersten Winkel des Raumes. Dann begann er, ohne Unterbrechung zu reden – man sagte ihm nach, dass er immer nur Monologe hielt, und es kaum zu Diskussionen mit ihm kam, von einer Geschichte zur anderen stolpernd, die Besucher horchten zu, andächtig … Unter anderem ging es um Selbstmörder an der Front und ein Erlebnis im Zweiten Weltkrieg, das er selbst da gehabt habe mit einem jungen Soldaten in einem Schützengraben in Russland. Der habe sich selbst mit seinem Gewehr gerichtet, kurz vor Beginn des Kampfes, über so was schweige die Statistik.
Wie sich im Laufe der Jahre herausstellen sollte, nahm es Friedrich Heer allerdings bei seinen Erzählungen mit der Wahrheit nicht so genau. Er galt als »Flunkerer», der nicht alles tatsächlich miterlebt hatte, was er behauptete. In einem 2008 herausgekommenen Sammelband namens «Die geistige Welt des Friedrich Heer» beschreibt Adolf Gaisbauer in seinem Artikel «Heer-Bilder», wie wenig dessen Berichte über seine Erlebnisse in der Kriegszeit der Wirklichkeit entsprachen. Es sei zwar richtig, dass er nie einen Soldaten im Krieg erschossen habe, wie er immer stolz erzählte, aber dies allein deshalb, weil er bei seinem Dienst an der Front nie direkt Feindkontakt hatte (etwa bei der Nachrichtentruppe war). Es habe viele Selbstmörder an der Front gegeben, besonders kurz vor dem Kampfbeginn, das habe er selbst an der russischen Front miterlebt, erzählte er seinen Besuchern. Das war zwar nicht wahr, galt aber der Untermauerung seiner kriegsfeindlichen Grundhaltung, die das Heldentum relativieren wollte, und ob er selbst das erlebt hatte, oder einer seiner Freunde, das war ihm dabei egal. Der allgemeine Wahrheitsgehalt musste stimmen. So konnte er mit seiner Erzählung effektiver etwas bewirken, den Zuhörer zum Nachdenken anregen. Und so hält auch der kritische Autor Gaisbauer dem oft als «Fabulierer» bezeichneten Friedrich Heer zugute, dass dieser seine historischen Bücher nicht um der reinen Sachlichkeit Willen schrieb, sondern dabei durchaus die Intention hatte, zu verändern.
Er war in den 1950ern und 1960ern angetreten, «diese judenfeindliche Grundhaltung, die er als Krankheit betrachtete, zu diagnostizieren, zu erklären und zu ihrer Heilung beizutragen». Er selbst beschrieb seine Motivation, Historiker zu werden, folgendermaßen: Es sei die Verzweiflung über den nationalsozialistisch-austrofaschistisch-klerikalen Mief gewesen, die ihn antrieb (so kann man es in vielen seiner Werke nachlesen). Friedrich Heer schrieb unendlich viel (hervorgehoben seien hier: «Gottes erste Liebe», «Der Glaube des Adolf Hitler» und «Der Kampf um die Österreichische Identität») und war berüchtigt für unendlich lange Erzählungen, in denen er wild drauflos assoziierte. Einer, der vom Hundertsten ins Tausendste kam. Diesbezüglich gibt es auch kritische Aussagen über ihn: Ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis und ein überdurchschnittlich gutes Kombinationsvermögen seien einem gewissen Unvermögen gegenübergestanden, das allumfassende Wissen auch systematisch zu verwerten. Auch hier könnte der bereits genannte Beziehungswahn eine Rolle gespielt haben: Das Wichtigste schien, alle Geschichten zueinander in Beziehung zu setzen.
Von und über Friedrich Heer gibt es so viel Literatur und Anekdoten, dass ich da für weitere Informationen auf die vielen Angaben in Bibliotheken und Internet (es wurde für ihn auch eine eigene Homepage installiert) verweise. Besonders erwähnenswert ist da ein vom Wiener Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann ab 2003 gestartetes Projekt: Die Herausgabe von ausgewählten Werken in Einzelbänden im Böhlau-Verlag. Begonnen wurde mit «Das Wagnis der schöpferischen Vernunft», schon der Titel sagt viel über die treibenden Motive des Autors Friedrich Heer aus.
Die Autorin Ariana Ehlmaier-Heilingsetzer ist selbst Historikerin, war früher Redakteurin bei der «AZ» (wurde 1991 eingestellt) und freie Mitarbeiterin der «Presse».