Fair Play im Wandel der Zeitvorstadt

Was ist eigentlich fair?

Alle wollen, alle sollen fair sein. Aber was ist Fairness? Wo liegen ihre Wurzeln? Und wieso hat Österreich noch nie die Fair-Play-Wertung der UEFA gewonnen? Eine Spurensuche inklusive Lokalaugenschein bei angeblich besonders unfairen Mannschaften.

Im Handel hat es das Fair-Trade-Siegel, das für eine gerechte Entlohnung von Kleinbauern und Landarbeitern steht, bis in die Regale der Diskonter geschafft. Versicherungen, Banken und Investoren bieten spezielle, angeblich «faire» Produkte an. Es winkt eine bessere Welt, wenn sich alle fair verhalten würden. Und wie sieht das im Fußball aus, von dem aus das Fair Play seinen Siegeszug im vorletzten Jahrhundert angetreten hat?

Als die ehrenwerten Herren der englischen Football Association 1863 das erste Regelwerk entwarfen, dachten sie nicht im Traum daran, Bestimmungen für Elfmeter oder Freistöße zu verfassen. Wozu auch? Unter Gentlemen schienen solche Sanktionen höchst unangebracht. Über die Public Schools, Eliteeinrichtungen zur Erziehung alt- und neureicher Sprösslinge, ist aus dem anfangs einer großen Rauferei ähnelnden Volksfußball eine feine Angelegenheit geworden. «Fußball war ein Ausweis von Stand und Bildung geworden, eine Verkörperung des neuen Gentleman-Ideals, in dem sich altadlige Tugenden (Mut, Tapferkeit, Gruppenloyalität) mit höfischen Idealen (Stil, gute Form) und neuen bürgerlichen Werten (Selbstkontrolle, Konkurrenzorientierung) zu einem Verhaltenskodex verbanden, der als Fair Play berühmt geworden ist.» Christoph Bausenwein legt in seinem Theorieklassiker «Geheimnis Fußball» ausführlich dar, wie die Werte der jungen Gentlemen dem Spiel ihren Stempel aufdrückten. Zu einem Satz gerafft, lässt sich das Fair Play wie folgt beschreiben: «Kern des Fairness-Gedankens ist die Überzeugung, dass die Art und Weise, wie man einen Sieg erringt, beim Spiel das Entscheidende ist.» Dieser Ehrenkodex einer geschlossenen Gesellschaft ließ für ein paar Jahrzehnte ein «ritterliches» Flair über den Rasen wehen, auf dem es den Sportsmännern in erster Linie um das Spiel an sich ging.

Freiwillige soziale Kontrolle

Die Gentlemen wollten und brauchten keine Regeln, ihr Ehrenkodex regelte alles von selbst. Wenn sich ein Spieler verletzte, verließ augenblicklich und freiwillig ein Spieler der gegnerischen Mannschaft das Feld. «Gentlemen ließen keinen Zweifel daran, dass sie ihre Händel selbst regulieren konnten», so Bausenwein. Als der Fußball aber die Arbeitermassen anzog, die durch erste soziale Errungenschaften zu füllende Freizeit erlangt hatten, schienen den Funktionären weitere Regeln unumgänglich: Es sei mit «nicht gentlemenhaftem Benehmen auf den Fußballplätzen zu rechnen». Bis 1891 wurden Schiedsrichter, Freistöße, Platzverweise und Elfmeter eingeführt. Ein Affront für die Gentlemen. Sanktionen für absichtlich begangene Fouls die ein Gentleman niemals machen würde waren ehrabschneidend. Strafstöße haben sie absichtlich verschossen, bei einem Elfmeterpfiff gegen die eigene Mannschaft verließ der Tormann sein Gehäuse, um das Unglück wieder gut zu machen. Bausenwein zieht ein drastisches Resümee: «Im Fair Play grenzt sich eine Schicht mit elitärem Selbstverständnis ab von den sozial Minderwertigen, denen man die Fähigkeit abspricht, im als Selbstzweck verstandenen Spiel eine Spielethik durchzuhalten. Die Fairnessregeln passen also nur in ein Milieu der sozialen Ungerechtigkeit, als Unterscheidungsmerkmal von oben und unten».

Heute sind die Klassengrenzen im Fußball gottlob eingerissen, und dennoch ist Fair Play ein hehres Ideal geblieben. Es lässt uns glauben, dass trotz der sportlichen Konkurrenz, die bereits in unteren Ligen durch finanzielle Beweggründe verschärft wird, das Spiel des Spiels wegen praktiziert wird. Und nicht erst seit den Vorfällen beim letzten Wiener Derby wird auch von den Fans Fairness verlangt. Aber wie weit soll und darf das gehen? Ob man den Schiedsrichter und seine Assistenten der Kurzsichtigkeit bezichtigen darf, soll auf der Friedhofstribüne des Wiener Sportklubs schon öfters ausdiskutiert worden sein. Tollpatschige Aktionen wie die von Politik, Wirtschaft und ÖFB initiierte Fair-Fan-Initiative anlässlich der Euro 2008, bei der man den Unterzeichnern hässliche Schals andrehte, bringen nachgewiesenermaßen nichts. Kein «Problemfan» würde jemals seinen Stiernacken mit einem derart lahmen Accessoire schmücken, geschweige denn sich dadurch zum Nachdenken anregen lassen.

Österreich ist nicht fair

Laut UEFA ist es um die hiesige Fairness ohnehin schlecht bestellt. Seit 1995 gibt es das UEFA Respect Fair Play Ranking, bei dem die drei vorbildlichsten Länder mit je einem Platz im UEFA-Cup nun Europa League belohnt werden. Österreich hat es in den 16 Jahren, seit denen es diese Hitliste der Braven gibt, noch nie aufs Podest geschafft, heuer reichte es lediglich für Rang 17. Die Musterknaben kicken scheinbar in Skandinavien, auf der britischen Insel und in Osteuropa. Die Wertung legt ein klares Nord-Süd-Gefälle der Fairness nahe. Österreich darf sich hier zu den Südländern zählen, Italien, Griechenland, Balkanstaaten und die Türkei tauchen so wie wir nicht im Fair-Play-Ranking auf. Worauf fußen die Urteile der UEFA? Neben roten und gelben Karten sind dies Respekt vor dem Gegner und vor dem Schiedsrichter, das Verhalten von Mannschaftsoffiziellen und Publikum und der ominöse Punkt «positives Spiel». Wesentlich mehr Einfluss auf das Fußballgeschehen soll eine neue, spätestens 2014 voll greifende Initiative der UEFA nehmen: Financial Fair Play. Mäzenatentum und Überschuldungen sollen damit zurückgedrängt werden. Erste Erfahrungen legen eher nahe, dass es zu einem massiven Ansteigen an Bilanztricksereien kommen wird.

Mangelnde Fitness schadet der Fairness

Der Wiener Fußball-Verband listet auf seiner Homepage ebenfalls eine Fair-Play-Wertung auf. Liga für Liga werden die Vereine nach ihrer Kartenstatistik inklusive Rotsperren bewertet. In der 1. Klasse B sind Vorwärts Brigittenau und die New African Football Academy abgeschlagen auf den letzten Plätzen. Fünf Runden vor Saisonende treffen die um den Klassenerhalt kämpfenden Teams im direkten Duell aufeinander. Eine Härteorgie scheint vorprogrammiert. Es entwickelt sich jedoch ein gut anzusehendes Spiel bei lauem Frühsommerwetter, das mit einem salomonischen 0:0 endet. Von übertriebener Härte, Gehässigkeiten oder Undiszipliniertheiten keine Spur. Eine alte Fußballweisheit aus dem Freizeitfußball scheint viel eher der Schlüssel zu den schlechten Beurteilungen zu sein. Vor allem bei den Brigittenauern sind etliche lichte Haarkränze und stattliche Bäuche im Spiel. Wenn die Schnelligkeit fehlt, geht auch gerne ein Tackling ordentlich daneben beziehungsweise bleibt oft nur mehr die Notbremse. Anders gesagt: Mangelnde Fitness schadet der Fairness. Und auch ein Blick in die anderen Wiener Ligen legt nahe, dass Fair Play als Unterscheidungsmerkmal von «oben» und «unten» heute keine gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern die Tabellensituation widerspiegelt. Fairness muss man sich so wie früher eben leisten können.