Der Fall Relotius hat zuletzt für helle Aufregung gesorgt. Wie aber konnte es
geschehen, dass der fälschende Star-Journalist nicht nur den Spiegel, seinen Arbeitgeber, sondern eine ganze Branche über Jahre hörnte? Marcel Andreu über Geschichten, die falsch sind – und manchmal auch erfunden.
Foto: Moritz Ablinger
Claas Relotius war nicht irgendein Journalist, der gelegentlich Reportagen über die Landesgartenschau in Bad Schwalbach abgeliefert hat. Ihm hat man beim Spiegel die großen Kaliber überlassen: Er berichtete über einen Häftling in Guantanamo, der sich so an seine Haft gewöhnt hat, dass er gar nicht mehr nach draußen will (erfunden). Über ein syrisches Geschwisterpaar im Volksschulalter, im Krieg zu Waisen geworden, das sich in die Türkei durchkämpft und nachts von Angela Merkel träumt (erfunden). Über eine typische amerikanische Kleinstadt, deren Bewohner_innen Waffen tragen, ihre Zeit auf örtlichen Western-Festivals verbringen und «sonntags für Donald Trump beten» (man ahnt es: erfunden). Die «kruden Potpourris», wie sie Spiegel-Chefredakteur Fichtner am Ende nannte, waren natürlich von Anfang an solche. Es waren Märchen, die geglaubt wurden, weil sie perfekt in das Weltbild und Selbstverständnis eines bankrotten bürgerlichen Journalismus passten. Oft stimmten in Relotius´ Geschichten nicht einmal die simpelsten Fakten. Vielleicht wollte er Dinge nicht herausfinden, weil sein Job ein anderer war. Er verstand es perfekt, die Fantasien, die Gedankenwelt und das Selbstbild des zeitgenössischen Journalismus, in dem er kometenhaft aufstieg, zu bedienen. Seine Reportagen waren Fake News für eine ganz spezielle Filterblase.
Idealer Hillbilly.
Besonders aufschlussreich ist dabei die genannte Reportage über die amerikanische Kleinstadt Fergus Falls. Michele Anderson und Jake Crohn, zwei Bewohner_innen des Ortes und ihrerseits kunstschaffende Clinton-Wähler_innen, haben Relotius’ Lügen minutiös auseinandergenommen. Das Panorama, das sich daraus ergibt, ist traurig und zugleich wenig überraschend: Relotius’ Dichtungen bedienen jedes einzelne Klischee, das sich ein entsetzter Journalist über die Trump wählende amerikanische Kleinstadt bilden mag. Relotius entwarf geschickt die perfekte Karikatur des Trump wählenden amerikanischen Hillbillys: Entweder taten sie es aus bedauernswerter Dummheit oder aufgrund ihrer eigenen Abgründe.
Warum Menschen sich tatsächlich für Trump entschieden, interessiert diesen Journalismus nicht. Ihm geht es nicht um Ungerechtigkeit oder Ungleichheit. Wer unzufrieden ist mit unserer Demokratie und der neoliberalen Ordnung, muss ein_e Hinterwäldler_in sein. Dabei geht es nicht darum, Trump-Wähler_innen oder ihre Entscheidung zu verteidigen. Rassismus war ein wichtiges Wahlmotiv vieler seiner Unterstützer_innen. Und ja, Fake News spielen eine wachsende und negative Rolle in der politischen Auseinandersetzung. Aber der Grund, warum so viele Menschen heute jeden Unsinn glauben, liegt darin, dass die etablierten Medien seit langer Zeit selbst jeden Unsinn berichten.
Mythische Unzufriedenheit.
Das Märchen von Fergus Falls ist ein Beispiel für eine Methode, die auch jene Abteilung des bürgerlichen Journalismus bestens beherrscht, die üblicherweise weniger frei mit der Faktenlage umgeht: Das Beobachtete mit allen Mitteln in die vorgefasste Schablone zwingen. Und wer nicht reinpasst, den macht dieser Journalismus zu mythischen, anachronistischen Gestalten. Opfer dieser Methode sind nicht bloß Trump-Wähler_innen, sondern erst unlängst unverfrorene und gierige Streikende oder auf Krawall gebürstete Gelbwestenträger_innen.
Ein besonders anschauliches Beispiel für diese Berufsblindheit ist die jüngste «Enthüllung» des US-Senats über angebliche russische Einmischungsversuche im Präsidentschaftswahlkampf 2016. Offenbar wurden Afroamerikaner_innen gezielt zum Gegenstand der russischen propagandistischen Bemühungen. Die New York Times sprang dem Senat zur Seite, indem sie diese Bemühungen als Teil von «russischen Einflussoperationen in anderen Ländern» interpretierte, «die ethnische Konflikte schüren wollten». Ein Skandal: Die Russen wollen der schwarzen US-Bevölkerung glatt einreden, es gäbe ein Problem mit Rassismus in ihrem Land – und zwar schon vor Trump, selbst unter Obama!
Das Geschäft mit dem Stabilisieren.
Der Aufruhr um russische «Manipulationen», der längst auch auf Europa übergegriffen hat, offenbart eine ganz bestimmte Geisteshaltung. Wer sich Sorge um Manipulation macht, unterstellt bei den Empfänger_innen Manipulierbarkeit. Als gäbe es ohne diese «Manipulation» keine Unzufriedenheit mit dem neoliberalen Regime, keine Krise des Vertrauens ins Establishment. Es ist für weite Teile des bürgerlichen Journalismus schlicht nicht vorstellbar, dass es eine grundlegende Unzufriedenheit mit einem System geben könnte, in dem seine Vertreter_innen es sich so gemütlich gemacht haben.
Für die Glaubwürdigkeitskrise des bürgerlichen Journalismus ist der Fall Relotius nur das Tüpfelchen auf dem i. Er wurde nur durch ein journalistisches Selbstverständnis möglich, das sein Geschäft im Schönreden und Stabilisieren von Verhältnissen sieht, die längst diskreditiert sind. Bloß in einer Hinsicht unterscheiden sich Relotius’ Geschichten vom Normalzustand in bürgerlichen Redaktionen: Sie waren nicht nur falsch, sondern noch dazu erfunden.
Dieser Text erschien ursprünglich am 28. Dezember auf www.mosaik-blog.at. Wir geben ihn hier leicht gekürzt und adaptiert wieder.