Chilip in Druk Yul (11)
Ich erkenne Karma, den freundlich lächelnden Bruder meiner Freundin Kuenga an den Safran- und Rottönen seiner Kleider, die ihn als Tsampa*, als ‹Meditierten› auszeichnen. Wir machen uns auf entlang einer neuen Feldstraße, die gerade bis nach Gengkhar führt, Kuengas Heimatdorf und letztes Dorf an der Straße.
Foto: © Namgay Tshering
Früher gab es hinter dem angrenzenden Berg noch ein Dorf – das wurde inzwischen umgesiedelt. Wie es den ehemaligen Nachbar_innen in ihren neuen Häusern auf der anderen Seite Bhutans geht, wusste niemand zu berichten.
Am (Um-)Weg nach Gengkhar findet sich der Ort, an dem Guru Rinpoche** den Schatz verbarg, den es als letzten zu entdecken gilt, wenn der Buddhismus in zweifelnder Gefahr ist (Tshang rong ne). Der Tempelhüter und sein Sohn Dorji erwarten uns schon. Dorji absolviert in Thimphu die Ausbildung zum Krankenpfleger. Er wurde von seinem Vater, der kein Englisch braucht, um uns sein Wohlwollen mitzuteilen, extra nach Hause gebeten, um uns an den Ort heranzuführen. Nach vielen Geschichten und Ara (lokaler Wein) ziehen wir deutlich aufgeheitert weiter. Zwischendurch passieren wir ungemein steile Rapsfelder – unsere Bergbauern würden staunen! Unerwartet halten wir in einer kleinen Steigung. Wir folgen einem kaum betretenen Pfad zu einem kleinen Häuschen, wo ein Freund Karmas seit nunmehr neun Jahren meditiert. Er wollte uns treffen. Unmittelbar fühlen wir Demut und atmen seine Stille ein. Kurz vor Gengkhar wird gerade ein letztes Stück der Straße geräumt – für uns, sonst kommt hier kaum ein Auto vorbei.
Heute Morgen trafen sich sechs Unbekannte an einem kleinen Flughafen auf 2734 Meter im Osten Bhutans. Während des Tages lernten wir uns etwas kennen. Abends wird die neue Verbindung von Kuengas und meiner Familie (die mich gerade besucht) in einer berührenden Zeremonie gefestigt. Karma legt uns weiße Tücher um, wir tauschen Gastgeschenke und Worte der Freude und Verbundenheit, meine Mutter und ich erhalten handgewebte Stoffe von Karmas Ehefrau, und ein handbemaltes Gefäß wird überreicht, als Symbol der dauernden Verbindung unserer Familien – gefüllt mit Reis, und stets soll es gefüllt bleiben, um Gutes zu bringen. Zum Abschied bekommen wir noch einen Sack voll Selbsterzeugtem: Bohnen, Zuckerrohr, Erdnüsse und Ara.
Die Wärme und grenzenlose Sorgfalt, mit der wir aufgenommen wurden, ehrt uns und lässt uns erkennen, dass wir nicht nur die ersten Besucher_innen aus dem Ausland sind, sondern Gäste. Gäste der Familie sowie Gäste des Dorfes. Und diese Verbindung bleibt bestehen in uns – und sichtbar mit dem gemeinsamen Familienfoto, das inzwischen einen Platz auf Karmas Hausaltar gefunden hat, und dem niemals leeren Holzgefäß, das meine Eltern einstweilen bewahren, bis ich selbst eine fixe Adresse habe. Hoffentlich darf ich dann Kuenga mit ihrer Familie willkommen heißen. Anders bestimmt, aber ebenso herzlich.
*Tsampa: dzongkha (Landessprache) für jmd., der meditiert, Mönch oder Laie; Beschreibung und respektvoller Ehrentitel zugleich
**Guru Rinpoche brachte im 8 Jahrundert den Buddhismus nach Bhutan und gilt hier als zweiter Buddha.
Marisa Kröpfl schreibt aus Druk Yul (Königreich Bhutan) von ihren Eindrücken als Chilip, wie Ausländer_innen im Land des Donnerdrachen genannt werden.