Fast ein Wundertun & lassen

16 Jahre dauerte es von der Idee bis zur Eröffnung des VinziDorfs Wien, seine Entstehungsgeschichte stellt unserer Gesellschaft kein gutes Zeugnis aus und ist doch ein Wunder. Denn das VinziDorf mobilisierte mindestens ebenso viel Einsatzbereitschaft begeisterter Ehrenamtlicher, wie es vorher auf Widerstand gestoßen war.

TEXT: ISABELLA MARBOE
FOTOS: MICHAEL BIGUS

Begonnen hatte alles mit einem Vortrag von Pfarrer Wolfgang Pucher in der Pfarre St. Stephan im Jahr 2002. Er stellte sein VinziDorf in Graz vor, wo Bedürftige bedingungslos Aufnahme finden. Mit oder ohne Alkohol. Pucher wollte auch in Wien ein VinziDorf errichten, er suchte Mitstreiter_innen. Es war kurz vor Weihnachten, bitter kalt, Cecily Corti und Alexander Hagner, der mit Ulrike Schartner das Architekturbüro gaupenraub+/- betreibt, hörten zu. Kurz darauf gründeten Pucher und Corti die Vinzenzgemeinschaft St. Stephan. Bald fand sich ein Grundstück in der Pfarre Aspern. gaupenraub+/- machten einen Entwurf, doch in knapp zwei Wochen waren über 1.500 Unterschriften gegen das Projekt gesammelt. «Der Pfarrer war sehr engagiert, aber die Gemeinde sagte: ‹Wenn da ein Dorf für Obdachlose hinkommt, treten wir aus der Kirche aus.› So katholisch ist Österreich», bemerkt Ulrike Schartner trocken.

Endstation Hetzendorf.

Auf der Suche nach einem Bauplatz wanderte dieses Projekt fast ebenso lang durch die Stadt, wie einige seiner heutigen Bewohner auf der Straße hausten. An sechs Standorten versuchte es Fuß zu fassen, bis im Jahr 2007 die Lazaristenpfarre in Hetzendorf das Grundstück neben der Kirche des Marianneums zur Verfügung stellte. Es ist etwa 3.500 m2 groß und hatte eine gültige Bauwidmung. Im Nordwesten an der Straße stand ein stark abgewohnter Bestand. Ein eingeschossiger Wirtschaftstrakt, an den ein ebenso langes Haus angebaut worden war. Früher diente es als Gästehaus, später wurde es Notquartier. Davor breitet sich im Südosten ein wunderschöner Garten aus.
Das Architekturbüro gaupenraub+/- bewahrt immer so viel Bestand wie möglich und legt die Schönheit frei, die ihm innewohnt. Kein Baum fiel, die alten Häuser hatten Charakter und Patina, was zur künftigen Bewohnerschaft passte. Neben Büro und Verwaltung für die Sozialarbeit dient das Erdgeschoss vor allem der Gemeinschaft. Es beherbergt Gastraum, Küche, Waschraum. Wie lose hingewürfelt setzten die Architekt_innen 16 kleine, pavillonartige Häuschen zwischen die alten Baumkronen am südlichen Grundstücksrand. Im Dachgeschoss des Gästehauses gibt es acht weitere Wohnungen. Sie sind etwas größer und haben ihre eigenen Badezimmer mit Dusche.
Otto G. wohnt im Dachausbau. Die Gruft hat ihn vermittelt. «A Dorf in Meidling?» Dann sah er es selbst. «Die Optik der Bungalows ist schön, aber da krieg ich Platzangst.» Doch die Wohnung war für ihn perfekt, jetzt lebt er schon drei Jahre «da im Lockdown». Er meint damit seine Einsiedlerexistenz. Otto ist am liebsten allein, er hat alles, was er braucht. Fernseher, Matratze, Mikrowelle. Gemeinsam essen ist nicht seins. Die Mutter war nervenkrank, der Vater am Steinhof, die Karriere als Heimkind begann mit vier Jahren und umfasste viele Stationen. Otto lernte Schmied, seine erste Frau traf er beim Rock ’n’ Roll im Brigittenauer Plankenwirt. «Wo ich getanzt hab, war ich der Erlesene.» Auf die Scheidung folgte die zweite Ehe, mit der nächsten Frau verlor er seine Hausmeisterwohnung. Die Reise durch diverse Männerheime begann – Meldemannstraße, Siemensstraße, Gänsbachergasse. Er hat immer gearbeitet. Als Blumenverkäufer, Würstelstandler, Maler und Anstreicher, bei einer Hausreinigung, 16 Jahre als Augustin-Verkäufer, darauf ist er stolz. Nun ist er da. «Ich fühl mich pudelwohl. Ich hab ein Dach über dem Kopf, meine Ruhe und bin in Rente.» Für ihn die schönste Phase seines Lebens.

Einkommensabhängige Miete.

«Alle, die hier wohnen, haben Einkommen: Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Pension, Mischformen», sagt Maria Scheiblauer, die Leiterin des VinziDorf. 24 Plätze gibt es, derzeit sind 22 besetzt. Einen hält sie einem Bewohner warm, der immer wieder auf die Straße abtaucht – und immer wieder ins Dorf zurückkehrt. «Frau Bürgermeister» nennt er sie. «Es gibt bei uns keine Termine», sagt sie. «Das Frühstück im Gasthaus und das Abendessen um 17 Uhr sind die Fixpunkte, alles andere ist flexibel.» Im VinziDorf leben Männer, die schon jahrelang auf der Straße waren. «Leute, die sich mit dem Wohnen ganz schwer tun.» Die Miete beträgt 15 Prozent ihres Einkommens, inklusive Gas, Strom, Frühstück und Abendessen – die Kost für die, die wollen.
Der jüngste Bewohner ist 42, der älteste 78 Jahre alt. «Der Garten strahlt so viel Ruhe aus. Das ist eine sehr, sehr große Qualität.» Seit der Eröffnung ist viel passiert: Es gibt eine neue Feuerstelle, Hochbeete, ausgebleichte Gartenmöbel erzählen von vergangenen Festen. Im Gasthaus ist um 22 Uhr Sperrstunde, dann ziehen einige vor ihre Häuser und spielen dort weiter Karten. Nachtruhe ist auch im VinziDorf ein Thema, vier Mal im Jahr gibt es eine Bewohnerversammlung. Außerdem: «Im Dorf ist Alkohol erlaubt, nur kein Schnaps und keine harten Getränke. Die müssen sie draußen trinken.» Scheiblauer ist Montag bis Freitag von acht bis 16.30 Uhr da, außerdem zählt der Sozialarbeiter Christian Heiling zum Team. Zwei Mal pro Woche kommen die Heimhilfe, die bei der Haushaltsführung unterstützt, und der Hausarbeiter Heinz Dessulemoustier. Er repariert alles, was anfällt, und ist von der ersten Stunde an dabei. «Ich war schon im April 2016 bei den Entrümpelungsarbeiten. Überwiegend mit Frauen. Die haben auch im Winter bei minus zehn Grad angepackt.» 3.800 ehrenamtliche Arbeitsstunden wurden geleistet.

Die lieben Nachbar_innen.

«Wir wollten keine Container aufstellen. Menschen sollen nicht in Blechbüchsen wohnen müssen.» gaupenraub+/- planten sehr kleine Doppelhäuser in Leichtbauweise auf einer Fundamentplatte und reichten bei der Baupolizei (MA 37) ein, doch die hatte immer etwas zu beanstanden. «Es war ein Albtraum. Wir zeichneten die Pläne jedes Mal um, dabei war das längst die perfekteste Einreichung der Immobilienbranche», sagt Hagner. «Bis uns klar wurde, dass wir den Zeichentisch verlassen müssen. Architektur ist politisches Handeln.» Es hagelte Einsprüche der Nachbar_innen, die Sache landete beim Verfassungsgerichtshof. Dieser entschied, dass die Einreichung bewilligungsfähig und nicht mehr zu beeinspruchen sei.
Am 28. August 2017 erfolgte der Spatenstich, die Stunde der Freiwilligen begann. An die 30 Personen halfen, den Bestand zu leeren, auszumisten und zu säubern. Dann kam der Bautrupp – teils professionell, teils nicht. Die Sandwichplatten für je drei Außenwände und ein Flachdach pro Haus wurden von Schüler_innen der HTL-Mödling unter Anleitung ihrer Lehrer_innen vorfabriziert und vor Ort montiert. Ein Fensterhersteller spendete 16 Musterfenster, alle verschieden. So hat nun jedes Haus sein eigenes. Auch die Eternitplatten der Fassade sind gespendet. Sie hatten alle unterschiedliche Farben und Formate – daher sehen die Häuser nun ein wenig scheckig aus. Graublau-weiß, rotorange-sandgelb, ocker-türkis. Eine Wiener Ziegelei stellte die Ziegel für die Mittelwände zur Verfügung, die als Speichermasse und auch akustisch wirksam sind. Die begrünten Dächer kühlen im Sommer sehr gut, für die kalte Jahreszeit ist jedes Häuschen mit einem Heizkörper ausgestattet. Manche drehen ihn auch bei Minustemperaturen nicht auf, andere heizen auf voller Stufe.

Eine Frage der Finanzierung.

Am 15. November 2018 war die Eröffnung. «Die Finanzierung ist Teil der Bauaufgabe. Als Architektin muss man überlegen, wie man zu Materialspenden und Spenderinnen kommt, welche Firmen man ansprechen, wer seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen könnte», sagt Ulrike Schartner. So konnte die Architektenplanung auch preislich mit dem Container konkurrieren. Sie sind deutlich kleiner, wesentlich hochwertiger und stets im Zusammenhang mit Garten und Gasthaus zu sehen. Deren Großzügigkeit gleicht den minimalen Wohnraum aus. Alle Häuschen sind gleich aufgebaut: Je ein Raum mit etwa 9 m2 inklusive Sanitärzelle mit WC, dessen Waschbecken einen zur Dusche ausziehbaren Hahn hat. So bleibt möglichst viel Wohnfläche und erhält der Gemeinschaftswaschraum mit barrierefreiem Bad zusätzliche Berechtigung. Unabdingbar ist er für die Bewohner des ersten Doppelhauses, das mit einem großzügigen Vorraum an den Waschraum andockt. Es ist barrierefrei und etwas größer als die anderen.
Frank Küllmer lebt in einem der beiden auf Türnummer 9. Er hat einen Rollator, unter dem hellgelben Kapperl lugt ein feines Gesicht mit verschmitztem Lächeln hervor. Vom Typ her ein bisschen wie Niki Lauda, denkt die Autorin. Küllmer ist ausgesucht höflich und spricht mit leiser Stimme, bundesdeutsche Färbung. Er hat sich seine eigene Einrichtung gekauft. Ein besseres Bett und einen Plattenspieler. «Viele Möbel habe ich selbst gebaut.» Regalborde auf Halterungen sind an die Wand montiert, für die Plattensammlung. Küllmer hört gern Operetten – und hat sich einen Vorrat an Nahrungsmitteln angelegt. Sein Lieblingsplatz ist sein Schreibtisch, er hat mehrere Computer und ein paar Monate als Führer bei den Shades Tours gearbeitet.
Alle Bewohner sind gegen Covid geimpft, einige letztlich aus Solidarität zur Gemeinschaft. Pandemiebedingt sind sie nun die ganze Zeit im VinziDorf. «Wir sind das einzige Gasthaus Wiens, das im Lockdown offen hat», sagt Heiling. Was er am meisten schätzt, ist die Zeit, die er hier für die Betreuung hat. «Ich kann warten, bis jemand von selbst zu mir kommt.» Das Hilfsangebot ist sehr informell. 30 bis 40 Ehrenamtliche übernehmen 365 Tage im Jahr die 24-Stunden-Betreuung. Alle haben einen anderen Hintergrund, jede_r findet da eine Person, bei der er sich öffnen kann. «Ich kenne keine andere Einrichtung, bei der das so ist. Das ist sensationell.»

Pässe und Hunderter.

Der Gastraum erstreckt sich über sechs Fensterachsen, von denen zwei zu Türen verlängert wurden, die direkt auf die große Terrasse am Garten führen. GASTHAUS steht über einer Tür, jeder Buchstabe ist anders, jeder fand von irgendwo in der Stadt hierher. An diesem nebligen Wintervormittag ist er recht leer. Michi Kummer blättert in einer Zeitung, vor ihm am Tisch eine Bierdose. Seine speckige Lederjacke wirkt wie eine zweite Haut, aus dem rechten Ärmel lugt ein Rapidband am Handgelenk. Vom Sofa im Eck dringen Schnarchgeräusche. Der Raum ist hell und freundlich, Holzparkett, weiße Wände, vom Gewölbe hängen runde, weiße Kugellampen. Wie Vollmonde. Einige Tische stehen herum, Stereo-Anlage, Fernseher und Wuzzler gibt es auch. Am 7. Jänner werden es drei Jahre, dass Michi im VinziDorf ist. Anfangs wollte er gar nicht, nach 13 Jahren auf der Straße. «Ich hab das Haus hinten am Wald genommen und ein Vogelhäuschen aufgehängt. Die Blaumeisen, die Kohlmeisen, die kommen alle zu mir, weil ich sie schon drei Jahre füttere.» Auch Marder und Katzen lassen sich blicken. «Ich war immer in der Psychiatrie, drei Mal in Gugging. Manisch depressiv, bipolar, Alkoholiker. Mit dem Schnaps hab ich jetzt aufgehört.» Der Lockdown half. «Kein Fortgehen, keine Lokale, kein Taxifahren.» Michi kommt aus dem burgenländischen Siget in der Wart, hatte eine Drogerie in Großpetersdorf, war im Außendienst einer Versicherung. Dann haute er nach Brasilien in die Favelas von São Paulo ab. Er zieht seinen Pass aus der Innentasche seiner Lederjacke, der Impfpass steckt drinnen und ein paar Hunderter. Seine Pension. «Das VinziDorf ist ein Paradies. So was wird es nie wieder geben.»

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