FastenzeitDichter Innenteil

Für den Tag der Entlassung hatte ich mir einige schöne Worte ausgedacht, und nicht nur das, auch eine schöne Geste sollte diese Sätze begleiten. Ich hatte mir vorgenommen, die alte Dame zu umarmen, ihr einen Kuss zu geben, vielleicht sogar auf den Mund, und einen Moment lang meinen Kopf an ihre Schulter zu legen, ganz kurz nur, aber doch so, dass es auffällig sein würde, dazu bestimmt, im Gedächtnis der alten Frau zu bleiben.

Grafik: Karl Berger

Warum bezeichnete ich sie eigentlich als alte Frau, ohne mich, im gleichen Atem- und Gedankenzug sozusagen, auch als solche zu bezeichnen? Sie war, so wie ich, in den Fünfzigern geboren, vier Jahre vor mir, wiewohl ich sie für ein bisschen älter gehalten hatte.

Drei Tage lang waren wir Bettnachbarinnen, in unserem Provinzkrankenhaus auf der Herzstation, beide an unseren Überwachungsgeräten hängend. Aufstehen und Herumgehen war möglich; man musste dazu einige kleine Umrüstungen an dem Gerät vornehmen und konnte dann mit etlichen Kabeln und dem schulheftgroßen, an einem Riemen hängenden Teil um den Hals seine ohnehin nur spärlichen Wege erledigen.

Unfähigkeit, den versteckten Tücken des Haushalts zu begegnen

«Sie sehen aus wie ein Briefträger», sagte sie, das fand ich nett. Überhaupt erschien sie mir recht angenehm, diese Unbekannte im benachbarten Bett. Es gibt wohl keinen Ort auf der Welt, der in so kurzer Zeit vollkommene Fremdheit in Intimität zu verwandeln vermag wie zwei nebeneinander stehende Betten in einem Spital. Der herbe Eindruck, den diese Frau auf mich gemacht hatte, als man mich am Freitag gegen Mittag ins Zimmer Nummer dreihundertsechsundfünfzig und damit in ihr Leben gerollt hatte, verstärkte sich im Zuge ihrer Erzählungen. Frau Waltraud war Witwe, seit zwei Jahren erst, und über diesen Zustand wusste ich alles; bei mir war es wohl schon etwas länger her, aber im Geiste konnte ich alle ihre Berichte spätestens ab der Hälfte ergänzen, und zwar punktgenau richtig; ob es die Schilderung ihrer Einsamkeit war oder die eher banal zu nennende Problematik ihrer absoluten Unfähigkeit, den versteckten Tücken des Haushalts zu begegnen, Stromausfällen etwa, die sich nicht von selbst erledigten, oder den Schwierigkeiten bei einem völlig hinterlistig aufgetretenen Wasserrohrbruch, der sie erst neulich an den Rand ihrer Nervenkraft gebracht hatte.

Meine Leidensgenossin

In der ersten Nacht, in der ich überhaupt nicht schlafen konnte, beobachtete ich meine Leidensgenossin; eigentlich nicht absichtlich, es ließ sich einfach nicht vermeiden. Ein oder zwei Stunden murmelte sie im Schlaf vor sich hin, offensichtlich hielt sie Zwiesprache mit ihrem kleinen Enkel; dabei machten ihre Hände Streichelbewegungen auf einem imaginären Baby, das sie im Traum auf ihrer Brust geparkt hatte. Waltraud hatte mir am Tag erzählt, dass sie in Höflein wohnte, einem Dorf an der Donau, ihre Tochter mit dem Kleinen jedoch in Oberösterreich. Also war ein Besuch im Spital bei der Omama wohl nicht so einfach.

Das Gefühl unserer Vertrautheit wuchs

Während wir uns so gegenseitig beobachteten und von Stunde zu Stunde das Gefühl unserer Vertrautheit wuchs, war natürlich noch ein Thema präsent, das anzusprechen wir uns aber sichtlich noch scheuten. Sie war eine große, grobknochige, nicht unhübsche Frau, sie hatte ihren Mann sehr geliebt, wie sie sagte, und war ihm jahrelang treu gewesen. Wie war sie mit seinem Verlust fertig geworden, nicht in Seele und Geist, sondern ganz einfach, was das Körperliche betraf? Für mich selbst hatte ich dieses Problem längst gelöst, ziemlich unbefriedigend übrigens, aber wie war das mit ihr?

Zur Jause bekamen wir Fastenjoghurt mit Marillengeschmack aus einer niederösterreichischen Molkerei serviert. Weil ich gerade wieder fix verkabelt in meinem Bett lag, kam sie zu mir herüber und reichte mir den Becher und einen Löffel.

«Fastenzeit», sagte sie, und während sie die ganze Zeit über eine ziemlich düstere Miene gezeigt hatte, lächelte sie jetzt, fast strahlend und ein wenig spitzbübisch, und schaute mich dabei so an, dass ich mit einem Mal das Gefühl hatte, sie seit ewigen Zeiten zu kennen.

Und dann bat ich sie, auf meinem Bett Platz zu nehmen, und dann tat ich mit dieser plötzlich geliebten und vertrauten Fremden das, was ich mir eigentlich erst für unseren Abschied vorgenommen hatte.