Felder, neue Zäune, Bergwelten und die gelbe Sauvorstadt

Mit dem Faltrad entlang des Eisernen Vorhangs

Der Eiserne Vorhang trennte bis 1989 Europa. Mario Lang (Text und Fotos) begibt sich seit 2016 mit einem Faltrad auf Spurensuche entlang dieser ehemaligen Trennlinie. Als Prolog zur heurigen Langstrecke «Riga – Wien» ein Rückblick auf die letztjährige Etappe «Wien – Schwarzes Meer».Weniger ist mehr, vor allem auf Radreisen. Auf meiner Reise entlang des Eisernen Vorhangs von Wien bis Tsarevo am Schwarzen Meer begleiten mich mein Faltrad, eine Fotokamera, ein Tablet und meine Radtasche. Die Tasche ist minimal bestückt. Die schwersten Trümmer sind das Radwerkzeug sowie das digitale Zubehör. Auch kleidungsmäßig findet nur das Notwendigste seinen Weg ins Reisegepäck, auf jeden Fall aber eine Tube Handwaschmittel. Gesamtgewicht 8,9 Kilo. Geschlafen wird in kleinen Pensionen, gegessen in ortsüblichen Wirtshäusern und geradelt die nächsten vier Wochen.

Auszüge aus dem Reiseblog:

1. Tag: Freitag, 10. Juni

Wien, Wasserwiese, Tourstart 7.45 Uhr. Die Strecke «Wien – Hainburg» gleicht der Fahrt auf einem Heimtrainer, die Pedale drehen sich, die Umgebung bleibt gleich. Ab Hainburg bewegt sich die Gegend wieder im Gleichschritt mit der Trittgeschwindigkeit. Bratislava bietet das gewohnte Schmuckpanorama: Donau, Burg, Ufo-Brücke. Wieder auf der österreichischen Seite, südlich von Kittsee, eine Militärstreife genießt den Ausblick von einer Vogelbeobachtungswarte. Illegale Graugänse?

2. Tag: Samstag, 11. Juni

Immer wieder Schwierigkeiten mit der «Iron Curtain Trail»-Radwegbeschriftung. Bei Pamhagen fällt der Eiserne-Vorhang- mit dem Neusiedlersee-Radweg zusammen, der Radweg wird zur Radautobahn. Nach Fertőrákos, ein neuerlicher Grenzübertritt. In Mörbisch windet sich die Straße durch den Wein zum Denkmal der «Geöffneten Türen» zur Erinnerung an das Paneuropäische Picknick. 1989 ein symbolischer Akt der Annäherung zwischen Ungarn und Österreich. Hunderte ehemalige DDR-Bürger_innen frühstückten nicht und nützten das Schlupfloch in die Freiheit.

7. Tag: Donnerstag, 16. Juni

Die Drava (Drau) hat sich als Grenzfluss zwischen Ungarn und Kroatien ins Geschehen eingemischt. Nach dem Seitenwechsel immer zur Linken, gibt sie sich meist schüchtern versteckt. Ein Erfrischungsbad hat sie dann doch zugelassen. Weiters: Beeindruckend die kroatische Vorliebe für die Rohbauweise. Eine erste überstandene Hundeattacke. Das Rasenmähen scheint ganz oben auf der Liste der hiesigen Lieblingsbeschäftigungen zu stehen. Ansonsten: Mais und Getreide so weit das Auge reicht, diesmal aus kroatischer Landwirtschaft. Da bleibt neben dem Treten viel Zeit zum Grübeln.

8. Tag: Freitag, 17. Juni

Bei Belišće biegt die Drava von der Radroute Richtung Osijek ab, um sich mit der Donau zu vermischen. Ihre nördlichen Auwälder säumen Minen-Warnschilder, auch noch 21 Jahre nach Ende des Kroatienkrieges! Bei Batina macht sich dann die Donau breit und bildet die Grenze zwischen Kroatien und Serbien. Auf der anderen Flussseite, bei Bezdan, versteckt sich direkt an der Donau eine kleine Csárda. Meine heutige Bettenstation. Ein Wirtshaus am letzten Zipfel Serbiens. Ein kleines Stück Paradies.

9. Tag: Samstag, 18. Juni

Die Nacht an der Donau, kitschiger Sonnenuntergang inklusive, hat mein Landschaftstrauma vergessen gemacht. Doch während sich die Donau Richtung Novi Sad und Belgrad ihren Weg bahnt, nimmt die Radroute die entgegengesetzte Strecke, wieder nach Ungarn. Obwohl wir es alle wissen, davon gelesen und bewegte Bilder gesehen haben, macht das reale Bild noch einen Zacken betroffener. Der Zaun. Noch 1989 skandierten die Bürger_innen der ehemaligen DDR: «Die Mauer muss weg!» – und verbannten in Folge den «Eisernen Vorhang» in die Geschichtsbücher. 17 Jahre später muss das vermeintliche Glück wieder geschützt werden. Über die gesamte ungarisch-serbische Grenze streckt er sich aus und macht Grenzorte zu Geisterdörfern. So erlebt in Csikéria. Leere Straßen, fast keine Menschen, geschlossene Geschäfte. Gruselig, sogar bei Tageslicht.

12. Tag: Dienstag, 21. Juni

Vršac war einen Stopp wert, eine quirlige Kleinstadt umgeben von Wein. Das heutige Ziel ist Bela Crkva, die Donau ist nicht mehr weit entfernt, genauso die rumänische Grenze. Mein aktuelles Bett steht in einem Wohnwagen an einem ruhigen See nahe der Ortschaft. Die Prioritäten liegen heute auf Radservice und vor allem Wäschewaschen! Wäschetechnisch schaut es ungefähr so aus: Es gibt tagsüber die Rad-Dress und abends die Ausgeh-Panier. Beide müssen so zwei, drei – egal – Tage halten.

13. Tag: Mittwoch, 22. Juni

Mit dem Grenzübergang nach Rumänien ändert sich die Landschaft, sie wird hügeliger, rauer und die Straßen ruppiger. Und auf einmal meldeten sich wieder alte Bekannte. Von der Seite sind sie gekommen, ansatzlos, unerwartet – die Straßenhunde. Aggressiv bellend, mir dicht auf den Fersen. Drei Attacken, passiert ist nix. Wahrscheinlich eine willkommene Abwechslung in so einem rumänischen Hundeleben.

Etwas später, auf einmal war sie da – die Donau und mit ihr auch die Sonne. Erst weit wie ein See, später schlank und bergig eingerahmt, bildet sie die Grenze zu Serbien. Neun Länder verbindet die Donau auf ihrem Weg ins Schwarze Meer. Mir geht das Herz auf.

14. Tag: Donnerstag, 23. Juni

Immer den Fluss entlang. Daneben blüht der Wildwuchs, Eidechsen nehmen ein Sonnenbad, Felswände schrauben sich in die Höhe, und die Frösche geben den Ton an. Es ist einsam auf der Straße, wenige Dörfer, wenige Autos und weit und breit keine Trink-Tankstelle in Sicht. Ab Orșova wird es dann unangenehm, und die letzten Kilometer Richtung serbisch-rumänischer Grenze werden zum Hindernislauf. Die ursprüngliche Landstraße wird zur LKW-Autobahn und hat alles im Programm, was Radfahrer_innen gar nicht brauchen: einen lächerlichen Pannenstreifen, teilweise sandig, der Asphalt wirft sich, viele Brücken, wo er komplett verschwindet, unbeleuchtete Tunnels. Die LKW-Fahrer_innen permanent am Gas. Nach dem Seitenwechsel auf die serbische Seite kehrt wieder Ruhe ein. Ein harter Arbeitstag zwischen Himmel und Hölle, und Kladovo ist meine heutige Oase.

15. Tag: Freitag, 24. Juni

Die gelbe Sau war, wie schon die letzten Tage, in Bestform. 35 plus. Die Hügel winden sich aufwärts, mit mir geht’s abwärts. Die Oberschenkel ziehen, der Rücken schmerzt, das Sitzfleisch ist mürbe, und im Fahrrad hat sich ein Vogelnest versteckt (es zwitschert, so viel ich auch schmiere). Auch der Wind geht immer in Opposition zur Fahrtrichtung. Bis Negotin hab ich gekämpft wie ein Löwe, mich dann umorientiert, mein Rad zusammengefaltet und es im Bauch des Überlandbusses nach Zaječar verschwinden lassen. Morgen werde ich einen Bus-Tag einlegen.

16. Tag: Samstag, 25. Juni

Beobachtung an einem Radfrei-Tag: Menschenschlangen vor der Bank. Jedem Serben sein Herrentascherl zum Umhängen. Die männlichen Bäuche sind beachtlich und ihre Träger sichtlich stolz darauf. Die Straßenhunde sind friedlich und integriert, manchmal fällt ein Happen ab. Rauchen ist fast überall erlaubt, nur nicht im Bus. Der Busfahrer hat wenige Zähne, dafür umso mehr Schmäh. Mit dem Bus geht es dreieinhalb Stunden holprig durch das Land. Die Hügel wachsen zu Bergen, Flüsse fließen, Schluchten fallen, ein Wasserfall stürzt, alles sehr romantisch, vom Bus aus!

17. Tag: Sonntag, 26. Juni

Angekommen in Bulgarien. Eine kleine Etappe sollte es werden, um den maroden Körper nicht zu überfordern. Es wurde eine Tour durch die Berge, durch teils verlassene Dörfer, auf geschundenen Wegen. Landschaftlich ein Traum. Eine neue Problemstellung ist die Beschilderung. Nicht immer vorhanden, nicht immer lesbar, und wenn, meist nur in kyrillischer Schrift. Trotzdem hat mir eine, für mich nicht lesbare Tafel, den Weg zu einem Naturschauspiel gewiesen. Purer Zufall. Parkende Autos im Nirgendwo. Hier ein Pfad. Da ein Experiment. Mein Rad und ich tauschten kurzfristig die tragenden Rollen. Und aus dem Nichts ein Wasserfall. Dort durfte ich zum ersten Mal bulgarische Gastfreundschaft genießen. Ein flussgekühltes Bier und einen Grillspieß.

19. Tag: Dienstag, 28. Juni

Heute stehen drei Pässe jenseits der 1000-Meter-Marke auf dem Programm. Diese aus eigener Muskelkraft zu erradeln, wäre ein Krampf. Als mein eigener Teamchef hab ich daher die Taktik von Solo-Rad auf Mixed Vehicles umgestellt. Das neue System funktioniert prächtig. Vor dem ersten Pass (Grenze Bulgarien/Mazedonien), erste Anbahnung einer Mitfahrgelegenheit, Volltreffer! Das Vergnügen der Downhill-Abfahrt lasse ich mir natürlich nicht nehmen. Ein weiterer Krampf ist der ewige Geldwechsel-Krimi. Trotz dreier Währungen im Hosensack will niemand die Währung des Nachbarlandes tauschen. Euro only!

23. Tag: Samstag, 2. Juli

Angefangen hat alles traumhaft. Sonnig, bei perfekten Radtemperaturen. Wunderbare Ausblicke, unglaubliche Bergwelt. Schluchten, Flüsse, kleine Dörfer, ruhige Straße, erträgliche Steigungen. Bis sich ein Unwetter zusammenbraute. Vorbei mit der Bergromantik. Blitze, Donnergrollen, die ersten Tropfen. Das erste vorbeikommende Auto, ein Treffer, bringt mich über Umwege zu einer Busstation. Der darauffolgende Busmarathon, drei verschiedene Busse, jeden auf die Minute erwischt, ließ mich durchgeschüttelt, aber glücklich in Kardschali landen. Der Regen war noch immer da.

24. Tag: Sonntag, 3. Juli

Immer noch verwirrend, das Kopfschütteln der Menschen: Horizontales Schütteln bedeutet «Ja», vertikales «Nein». Also andersrum. Trotz des Bescheidwissens darüber kommt es immer wieder zu Missverständnissen. Davon abgesehen nehmen die Berge in Bulgarien kein Ende. Morgen geht es über die griechische Grenze.

25. Tag: Montag, 4. Juli

Heute warten zwei Grenzübertritte. Aufs Bergland der vergangenen Tage folgt Flachland. Bretteleben geht es durch Griechenland. Felder, Sonnenblumen, kleine Dörfer, nette Menschen, dennoch blieb es bei einem Kurz-Gastspiel, schon wartet die nächste Grenze. Bewaffnete Grenzsoldaten sowohl auf griechischer als auch auf türkischer Seite. Eine alte Geschichte. Auf das verschlafene Ivajlovgrad und die griechische Landidylle folgt das pulsierende Edirne. Viele Menschen, viele Moscheen, ein Bazar nach dem anderen, viel Verkehr, viel Lärm. Sonne und Gewitter wechseln sich ab. Und jetzt ist es an der Zeit, der Pelz im Gesicht muss weg, ein türkischer Barbier muss her.

26. Tag: Dienstag, 5. Juli

Das Herausfinden aus der Stadt war eine Aufgabe für Fortgeschrittene. Die Straße immer leicht hügelig, der Belag bekömmlich, meine Freund_innen, die Wolken, haben die gelbe Sau perfekt abgedeckt, aber Gegenwind auf gut 60 Kilometern. Die vermeintliche Spazierfahrt wird zur Tortur.

Was ich lange schon berichten wollte: Ein Hoch auf die Mini-Märkte! ABC-Markt, Magazin Mixt, Mini-Market … wie auch immer. Fast jedes Dorf besitzt so einen Mikro-Laden, wo es von Wasser und Brot bis zum Waschmittel die wichtigsten Gegenstände des täglichen Lebens zu erwerben gibt. Tagtägliche Lebenshilfe, also echte Super-Märkte!

27. Tag: Mittwoch, 6. Juli

Nach dem Frühstück waren sie wieder da, die Berge, gleich hinter Kırklareli haben sie sich aufgebaut. Von Kırklareli bis Tsarevo führt eine einzige Straße. Anfangs guter Asphalt und immer bergauf, nach dem Grenzübertritt nach Bulgarien ging’s bergab, auch mit der Straßenqualität. Ein Schlagloch-Slalom beginnt. Vom Start bis zum Ziel keine Dörfer, nur auf Abwegen. Rettende Trinkbrunnen regeln den Flüssigkeitshaushalt. Die einzigen lebendigen Kontakte außer der Grenzkontrolle war eine Ziegenherde im Wald. Aber dann: Das Ziel. Das Schwarze Meer. Ich gehe auf Wolken.

2.712 Kilometer durch elf Länder bis zum Schwarzen Meer sind abgefahren. Ich verabschiede mich jetzt, das offizielle Zielfoto mit Rad und Radler steht noch auf dem Programm.

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