Feldhamstermetropole Wienvorstadt

Bis 2050 könnten in Österreich die Feldhamster aussterben, warnt Greenpeace. In Wien ist man sich der Bedeutung dieser Nagetiere offenbar bewusst.

TEXT & FOTOS: KLAUDIA SOBOTA

Spaziert man die Kundratstraße in Favoriten entlang, bemerkt man die schwarzen Löcher auf fast jedem Grasstreifen. Faustgroß sind die Eingänge ins Erdreich, im Kindergarten in der Quaringasse findet man rund acht auf einem winzigen Hügel. Am Meidlinger Friedhof sieht man einen Hamster in die Grabstätte verschwinden, beim alten Wasserturm begegnet man gleich vier Nagern: Zwei davon springen sich mit wilden Bewegungen an. Einer rennt mit prall gefüllten Backen über eine Gemeindebauwiese, ein anderer stopft noch nach – wie ein Ballon wachsen die Backen aufs Maximum.

Hamstermatte zum Kinderschutz.

Seit 2020 wird der europäische Feldhamster von der Weltnaturschutzorganisation IUCN als «stark gefährdet» eingestuft. Einer Modellrechnung von Greenpeace zufolge könnte er in Österreich bis spätestens 2050 ausgestorben sein, wenn keine aktiven Maßnahmen zum Schutz vorgenommen werden. Im vergangenen Jahr hat die Stadt Wien ein neues Projekt gestartet: Eine «Hamstermatte» soll auf einem Spielplatz entstehen. Obwohl das Projekt primär Kinder vor dem Sturz in Hamsterlöcher schützen soll, ist es ein Beispiel dafür, dass Wien aktiv handelt, damit Hamster überleben: «Früher hätte niemand gedacht, dass man wegen Hamstern so einen Aufwand macht», sagt Biologe und Hamsterexperte Harald Gross von der Umweltschutzabteilung der Stadt Wien, «Hamster können hier nicht aussterben, denn wir setzen aktive Maßnahmen.»

Hamsterhauptstadt.

Kaum eine andere Großstadt weist so eine große Hamsterpopulation wie Wien auf. «Teilweise gibt es in Wien eine viel höhere Populationsdichte als in seinen natürlichen Lebensräumen», merkt Verhaltensbiologin Ilse Hoffmann an. Für viele Expert_innen wie Simone Klais gilt Wien daher im Vergleich zu anderen Großstädten als Hamsterhauptstadt: «In Europa gibt es nur wenige Städte, wenn dann in Südosteuropa, die auf so ein Vorkommen stolz sein können.»
Laut der letzten Kartierung befinden sich rund 3.000 Feldhamster in Wien, davon die meisten in den südlichen Bezirken Favoriten, Meidling und Simmering. Begegnen kann man den bis zu 40 Zentimeter langen Nagetieren allerdings nicht nur in Parks und gewöhnlichen Grünanlagen. Sowohl in Kindergärten, auf Sportplätzen, auf Friedhöfen als auch auf dem Areal der Klinik Favoriten (früher Kaiser-Franz-Josef-Spital) sind diese Tiere freilebend anzutreffen. Simone Klais erzählt vom Anruf einer besorgten Frau: «Bei mir im dritten Stock läuft ein Hamster den Gang entlang, was tun?»
Für solche und andere Fälle ist die Umweltschutzabteilung der Stadt Wien (MA 22) zuständig. Simone Klais sowie Harald Gross haben mit ihrem Team den Auftrag, den Hamsterbestand zu überwachen, Maßnahmen zu setzen und bei Sorgen und Beschwerden einzugreifen.

Pizza statt Korn.

Warum ausgerechnet eine Großstadt zum Hamsterlebensraum geworden ist, scheint für viele ein zunächst unerklärliches Phänomen zu sein. Der Hamster ist ein typischer Bodenbewohner und braucht ein Löss- oder Lehmsediment, also zum Graben geeignete Erde. Sein Verbreitungsgebiet in Österreich liegt im Osten mit dem Schwerpunkt Wien. «Weiter westlich als bis Melk gibt es keine Hamster», so Verhaltensbiologin Ilse Hoffmann.
Früher war Wien stark landwirtschaftlich geprägt. Die Acker und Felder boten ein Paradies für Feldhamster. «Die sich entwickelnde Stadt ist in diesen Raum hineingewachsen», sagt Simone Klais. Die Hamster konnten sich anpassen und profitieren bis heute von den Vorteilen. Die Stadt bietet Schutz vor herkömmlichen Feinden wie Füchsen und Greifvögeln und erleichtert die Nahrungssuche. Ilse Hoffmann erzählt, dass die Allesfresser nicht selten Pizza- oder Kebabreste in ihren Speiseplan aufnehmen. Sie gibt jedoch auch zu bedenken, dass die stabile Hamsterpopulation täuschend sein kann. Von Jahr zu Jahr kann die Anzahl der Tiere schwanken. Es braucht sich nur ein Faktor zu ändern, und schon schaut es schlecht aus für die kleinen Wühler.

Einen Schilling pro Hamsterschwanz.

In der Vergangenheit wurden Feldhamster oft als Schädlinge gesehen und mit Rattengift bekämpft. Ein Passant, der die Straßen in Favoriten entlangspaziert, erzählt, dass er auf einem Bauernhof aufgewachsen sei, auf dem es eine «Hamsterplage» gegeben hätte. «Für jeden abgeschnittenen Hamsterschwanz bekam man einen Schilling», erzählt der ältere Herr.
Ebenso dienten Hamster zu Zeiten der Hungersnot als Nahrungsmittel – Hamsterleber war mancherorts eine Delikatesse. Da die Tiere für ihre Wintervorräte bekannt waren, wurden Hamsterbaue oft ausgegraben und das dortige Futter für die Verarbeitung zum eigenen Brot genutzt.
Auch die Gegenwart bringt viele Feinde mit sich. Weder die Industrialisierung, die intensive Bebauung noch Pestizide sind dem Hamster willkommen. Zudem birgt die Anwendung von Rattengift noch immer große Gefahr: Obwohl die Fallen nur für Ratten gedacht sind, greifen Hamster gerne zu.

Initialbau mit Futtervorrat.

Ein großer Feind des Hamsters ist und bleibt die Baustelle. Wenn ein Projekt ein Hamstergebiet betrifft, müssen zuerst eine Genehmigung und bestimmte Maßnahmen erstellt werden. Der Landschaftsökologe Friedrich Vondruska ist unter anderem für den Schutz von Hamstern zuständig. Vor einem Bauprojekt überprüft er das Gebiet, zählt die Hamster und kontrolliert, ob alle Regeln befolgt werden.
Am wichtigsten ist, dass die Hamster nicht beeinträchtigt werden und dass im Nachhinein noch ein Zuhause für die Tiere besteht. Für Letzteres gibt es eine besondere Maßnahme: die Hamsterumsiedlungen.
Ilse Hoffmann war selbst schon an einigen beteiligt. Laut ihr sind diese jedoch nicht optimal und sollten so gut wie möglich vermieden werden. «Wir würden keine Umzüge machen, wenn das der Population schaden würde», sagt dazu Harald Gross von der Stadt Wien.
Es gibt zwei Methoden, um Feldhamster umzusiedeln: Entweder man vergrämt sie im alten Gebiet, indem man nicht mehr mäht und die Nahrung verknappt, oder man fängt sie ein und lässt sie im neuen Gebiet wieder aus. In beiden Fällen wird das Hamster-Neuland mit großer Sorgfalt eingerichtet: Initialbaue mit einem Futtervorrat werden angelegt, und die Gegend wird hamsterfreundlich gemacht, damit die Nager im neuen Gebiet eine Chance haben, sich weiterzuentwickeln.

Suppe, Körner und Vandalen.

Für viele Wiener_innen sind Feldhamster wichtige Zeitgenossen geworden. «Es freut mich, dass es in der Bevölkerung immer mehr Leute gibt, die das Vorkommen dieser kleinen schutzbedürftigen Tiere bemerken und mich in Eigeninitiative im Schutz für den Hamster unterstützen», meint Simone Klais. Ebenso erzählt Ilse Hoffmann, dass sie bei den Bürger_innen viel Toleranz entdeckt: Im zehnten Bezirk gab es die Initiative, eine «Hamsterwiese» zu errichten.
Zwei Studentinnen, Miriam Bauer und Laura Demol, berichten von ihrer guten Hamstererfahrung in Favoriten: Sie selbst hatten ein Tier im Garten, den süßen «Dulcifer», den sie ab und zu mit Körnern fütterten.
Auch an den Anrufen, die die MA 22 in Hamsterfällen bekommt, kann man sehen, dass den Bürger_innen die Hamster nicht egal sind. Harald Gross schätzt, dass manchmal bis zu zehn hamsterbezogene Anrufe die Woche eingehen. Neben Sorgen und Beschwerden erreichen skurrile Fälle den Biologen und sein Team, etwa die «Hamstervandalen», die Blütenköpfe vom Grabschmuck am Friedhof futterten, oder gar eine angebliche Bissverletzung, weil ein Kind mit dem Finger in ein Hamsterloch gefallen sein soll. Gut, dass es jetzt das Projekt mit der Hamstermatte gibt.

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