Filatura lässt grüßenvorstadt

Alcoy war ein frühes Zentrum der spanischen Metall- und Textilindustrie. Heute bewohnen Roma die Ruinen der Industrieanlagen, die in den 1930er-Jahren zu Ausgangspunkten für den anarchosyndikalistischen Widerstand gegen Staat und Kapital wurden.
Text und Fotos: Barbara Eder

Es ist heiß, im Osten Spaniens, mitten im Sommer. Ich stehe auf einem Abhang, zwei Schritte weiter geht es in die Tiefe, Plastiktüten, Schutt und Hausrat lagern im Abgrund. Von hier aus erinnert vieles an die Festung, aus der die Stadt, in der ich stehe, entstanden sein soll, nicht die Iberer, die Mauren haben Alcoy in die felsigen Hänge des Hinterlands gehauen. Durch das Tal der Stadt fließt kein Fluss mehr, die steinernen Brücken, die über das ausgetrocknete Bett führen, sind von Efeu überwuchert. Links und rechts davon: Ruinen, so weit das Auge reicht. Dann beginnt das Bild zu wackeln. «Hau ab’, geh’ weg von da!», sagt das Mädchen neben mir, sechs, vielleicht acht Jahre alt. Anfangs unbemerkt, stand es dort schon die ganze Zeit. Jetzt rempelt es mich an und schreit: «Verschwinde! Du stehst mitten im Wohnzimmer!»

Im Privatraum.

Ein Wohnzimmer stellt man sich gemeinhin anders vor. Dieses hier liegt im Freien und hat keine Fenster, keine Türen. Es ist ein Luftraum mit natürlichen Begrenzungen, die Vorderfront Richtung Abhang geöffnet, die Hinterseite abgetrennt durch Reste von rostigem Draht. Im Inneren dieser Behausung gibt es auch Interieur: auf ein rot bemaltes Ölfass kann man sich setzen, im Kubus aus Hasendrahtgitter warten Haustiere darauf, gefüttert zu werden. Einen Moment lang schäme ich mich, den Privatraum des Mädchens unaufgefordert betreten zu haben, sehe ihr, jenseits des kniehohen Drahtgitters, dabei zu, wie sie Sonnenblumenkerne durch die Maschen des Käfigs mit den Feldmäusen schiebt. «Gras?», fragt mich der Vater, vielleicht auch der ältere Bruder des Mädchens. Ich schüttle den Kopf, «nein, danke!», wende meinen Blick ab von der Gruppe junger Männer, die den Inhalt eines Kleinbusses entladen. Am Parkplatz stellen sie Möbel ab, eines nach dem anderen. Die Lehnen der Garnituren sind zerschlissen, der Stoff zersiebt. Ja, das hier ist ein Wohnzimmer. Die neue Innenausstattung wurde eben angeliefert.

Keine Arbeit mehr.

Hier, auf der Straße, die zu den Fabriken von Alcoy, der zweitgrößten Stadt in der valencianischen Provinz Alicante, führt, fährt niemand entlang, um zur Arbeit zu gelangen. Arbeit gibt es hier schon lange keine mehr. Drei, vielleicht vier Romafamilien haben sich in der Häuserzeile einquartiert, begonnen, die eingefallenen Dachstühle zu reparieren und im sumpfigen Umland des vertrockneten Flusses Gemüse zu ziehen. Vor den Eingangstüren hängen bunte Stofffetzen, davor sitzen ältere Frauen und schälen Kartoffeln. Sie unterbrechen einen Moment lang ihre Tätigkeit, schauen auf, als ich vorübergehe. Passant_innen sind selten, Roma und Sinti hingegen leben hier, an diesem Aufenthaltsort ohne offizielle Adresse. Das Schild mit dem Namen der Straße ist schwarz übermalt, sie endet in einer Sackgasse. Der Stadtverwaltung fehlt es schon jahrzehntelang an Geld, um die nötigen Abrissarbeiten durchzuführen, die Fabriksgebäude sind verfallen, dazwischen Werkswohnungen mit eingeschlagenen Fenstern und zubetonierten Eingängen, eingestürzte Produktionshallen voll Schutt und Ziegelstein, Schlote, die abbröckeln und die dennoch niemand sprengt. Anderswo wäre die Existenz dieser Ruinen – allein schon aufgrund von Baubestimmungen – undenkbar. In Alcoy sind sie zum Wohnort für die Nachkommen eines vormals fordistisch organisierten Fabriksregimes geworden.

Roma haben die Ruinen geerbt.

Ruinen sind Allegorien, aber nicht nur. Man kennt sie, die abgeschiedenen Zonen mit ihren Rinnsalen, die Stalker, ein einsamer Widersacher des sozialistischen Realismus, in Andrej Tarkowskijs gleichnamigem Film abschreitet, auch die Bilder aus seinem drei Jahre später veröffentlichten Film Nostalghia. Drei verlorene Gestalten irren darin durch Landschaften aus abbröckelnden Gewölbegängen und zerfallenem Mauerwerk, in das sich Pflanzen und Gräser krallen. Die Natur überwuchert die einst klare Geometrie einer Industriearchitektur, die sich aufgelöst hat. Wer die Sinnprovinzen Tarkowskijs betritt, wird wider Willen zur Allegorikerin; in den Ruinen von Alcoy hingegen haust ein anderer Geist. Seinen Besucher_innen zeigt er die Zähne oder senkt stattdessen den Blick. An einem der Eingänge kann ich einen Torso erkennen, der das bunte Gewand der Harlekine trägt. Das Graffito ist nicht gesprüht, sondern gemalt, es zeigt einen Körper ohne Gliedmaßen, mit Ohren, so groß wie Satellitenschüsseln. Hier, inmitten der Ruinen, hausen nicht die Gespenster der toten Arbeit, man versinkt nicht in Allegorien und begrüßt keine Ahnen. Die Bilder, die man zu sehen bekommt, erzählen keine Geschichten von den Fortschritten in der Produktion und auch nicht die sentimentalischen vom Verschwinden einer vermeintlich einheitlichen proletarischen Kultur. Es sind Roma, die diese Ruinen geerbt haben – und sie haben den geordneten Verhältnissen eines Arbeiter_innenhaushalts, der konzisen Anordnung von Stuhl, Tisch, Bett und Lebenszeit ein anarchistisches Element hinzugefügt.

Staat und Kapital überwinden.

Die Geschichte der Industriearbeiter_innen von Alcoy ist eine, die seit jeher mehr von der anarcho-syndikalistischen denn der sozialistischen Tradition geprägt ist. Bereits im 19. Jahrhundert wurde die Stadt zum Zentrum der spanischen Metall- und Textilindustrie, das Wasser der Flüsse Molinar und Riquer diente als Antrieb für die Papier- und Getreidemühlen. 1936 war nahezu die Hälfte der Bevölkerung in der Industriearbeit beschäftigt, achtzig Prozent davon zählten in jenem Jahr, in dem die anarchistische Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT) infolge des Militärputsches vom 17. Juli einen Generalstreik organisierte, zu ihren Mitgliedern. Die seit 1929 andauernde Weltwirtschaftskrise hatte zu Massenarbeitslosigkeit und Überausbeutung geführt und die geforderten sozialen Reformen waren in der jungen parlamentarischen Demokratie Spaniens nicht umgesetzt worden. Infolgedessen eigneten sich die Arbeiter_innen von Alcoy ihre Fabriken an – ganz im Sinne der anarcho-syndikalistischen Idee: Gegenmacht zu Staat und Kapital aufbauen – mit dem Ziel, beide zu überwinden.

Beschlüsse von der Basis.

«Alles stand also unter gewerkschaftlicher Kontrolle und Leitung», schrieb der Agitator und spätere Spanienkämpfer Gaston Leval in einem Dossier zu den erfolgreichen Syndikalisierungen im Alcoy des Jahres 1936. Ohne die antifaschistische Einheit zu brechen, forderten die Arbeiter_innen während des Generalstreiks die Einführung einer staatlichen Unterstützung für Erwerbslose, eine allgemeine Krankenversicherung und schlussendlich auch die Übernahme der Fabriken. Die Organisationsfrage spielte dabei eine besondere Rolle. Nicht von einer revolutionären Vorhut, die als Avantgarde der Wenigen fungierte, wurden die Entscheidungen getroffen; vielmehr wurden Beschlüsse von der Basis zu den Militanten hin ebenso vereinbart wie in umgekehrter Richtung. Dieser zweifache Prozess setzte sich mit Beginn der temporären Selbstverwaltung der Fabriken auch in allen Angelegenheiten der Produktion und Verwaltung durch, von den Handarbeiter_innen bis zu den Techniker_innen und wieder zurück.

Von der Selbstverwaltung zur Entfremdung.

Eine von den Massen gestützte, anarcho-syndikalistische Erhebung wie die des Jahres 1936 hat sich in Alcoy bislang nicht wiederholt. In den ausgehenden 70er-Jahren waren jene Fabriken, auf die verblasste Schriften wie Filatura oder Fornitura bis heute verweisen, keine Orte der Selbstverwaltung mehr, sondern halbautomatisierte Entfremdungszonen, die mit dem Niedergang der Textilindustrie dem endgültigen Verfall preisgegeben wurden. In diesen Bauten und Bildern wirkt jedoch bis heute ein anarchistischer Geist: «Ur future self is watching u right now through memories», steht so auf einer der Wände, darunter die Skelette zweier ausgedienter Röhrenfernseher – eine Fläche, die zum Spiegel für künftige Aufstände werden kann, als Mahnmal, das uns erinnert. 

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