Herr Groll auf Reisen (399. Folge)
Herr Groll und der Dozent standen auf der neuen Lippitzbachbrücke über der tief unter ihnen fließenden Drau. Im Jahr 2009 sei die Brücke errichtet und vom damaligen Landeshauptmann Dörfler mit dem Namen seines Vorgängers benannt worden. Dass Jörg Haider einmal in Kärnten zum Brückenbauer wird, hätte dieser sich zu Lebzeiten auch nicht träumen lassen, bemerkte Herr Groll.
Der Dozent zog aus der Innentasche seines Jacketts eine zusammengelegte Zeitung und glättete sie notdürftig.
«Ich habe hier einen aufschlussreichen Artikel über die Pflegeindustrie in Europa. Was ich da erfahren habe, sprengt meine Träume ebenfalls. Da weist ein gewisser Rémi Boyer, vom zweitgrößten europäischen Pflegekonzern Korian in Paris, darauf hin, dass bei anhaltenden Niedrigzinsen die Pflegebranche privaten Investoren eine einzigartige Anlagemöglichkeit biete. Der Markt wachse unablässig, und der wichtigste Kunde sei der Staat, der auch in Krisenzeiten immer zahlt. Nach Angaben der OECD beteiligen sich die Staaten der EU sowie Großbritannien, Norwegen und die Schweiz mit 220 Milliarden Euro an den Pflegekosten – und das pro Jahr! Weitere 60 Milliarden Euro steuern die Betroffenen aus eigener Tasche bei.»
«Die Parole ‹Weniger Staat› gilt nicht in jedem Fall», kommentierte Herr Groll und verfolgte mit seinem Blick einen Raubvogel, der über dem Tal seine Runden zog. Der Dozent fuhr fort: «Die rasche Alterung der Bevölkerung werde ein langfristiger Wachstumstreiber für den Pflegeheimmarkt sein, verkündet ein großer Unternehmensberater. Auch ein deutscher Gewerkschafter bestätigt die Krisensicherheit des Pflegesektors. Sollten die Pflegekassen einmal bankrott gehen, zahle der Steuerzahler, ein Zahlungsausfall sei daher auszuschließen. ‹Null Risiko bei sprudelnden Profiten, ein kapitalistisches Schlaraffenland›, wird er zitiert. Kein Wunder, dass die Konzerne den Markt in Europa aufrollen. In Spanien sind schon mehr als 80 Prozent aller Pflegeeinrichtungen in der Hand von privaten Unternehmen. In Großbritannien sind es 76 und in Deutschland inzwischen 43 Prozent.*
Eine britische Studie kommt zum Ergebnis, dass private Heimbetreiber einen Profit von zehn Prozent des Umsatzes lukrieren, eine Traumzahl. Geld, das für mehr Personal und damit eine bessere Versorgung fehlt. Das spüren die Beschäftigten in den großen Konzernen jeden Tag. Gut geführte Heime verwenden rund 70 Prozent ihrer Einnahmen für das Personal. Die marktführenden französischen Konzerne wie Orpea und Korian veranschlagen in ihren jüngsten Konzernbilanzen dagegen lediglich 50 bis 55 Prozent.»**
«Ich dachte, Heime müssten gemeinnützig sein und dürften in Österreich keine Gewinne machen», warf Groll ein.
»Es gibt da etliche Tricks, mit deren Hilfe diese Bestimmung umgangen wird», erwiderte der Dozent. «An vorderster Stelle sind da verschachtelte Firmenkonstruktionen in Steueroasen zu nennen. In nicht wenigen Fällen kommen dutzende Zwischeneigentümer und Finanzbrücken zum Einsatz. Besonders trickreich erweisen sich da Konzerne, die in Luxemburg residieren, extrem hohe Kreditkosten geltend machen, wodurch sie nie Gewinne machen und keine Steuern zahlen. Gleichzeitig sind die Luxemburger Kreditgeber dann ihrerseits bei den eigentlichen Investoren verschuldet. Derartige profitable Finanzbrücken sind im Pflegebusiness keine Ausnahme, sondern die Regel. Tatsache ist, dass ein stetig wachsender Teil der staatlichen Ausgaben für die Pflege in die Kassen transnationaler Unternehmen fließt, die damit einen wichtigen Teil der sozialen Infrastruktur in ihren Besitz bringen. Dazu kommt, dass anonyme Finanzinvestoren mittels Steueroasen ihre mit öffentlichen Geldern erzielten Gewinne der Besteuerung entziehen. Gleichzeitig wird beim Personal gespart, wodurch die Pflegequalität sinkt. Die Regierungen tragen diesen Prozess entweder mit oder lassen ihn laufen und versagen notorisch bei der Kontrolle. Die zwanzig größten Pflegekonzerne Europas verwalten derzeit 4681 Heime für mehr als 400.000 Pflegebedürftige.»
Herr Groll wendete den Rollstuhl. «Wenn ich da höre, dass die ÖVP an einer großen ‹Pflegelösung› arbeitet …»
«Wissen Sie, wohin der Hase läuft», erwiderte der Dozent.
«Die Grünen werden ihn stoppen!», sagte Herr Groll.
«Amen!», sagte der Dozent.
* «Heime als Gewinnmaschinen für Konzerne und Investoren» Tagesspiegel, Berlin. (Eine Recherche von Investigate Europe), 16. Juli 2021
** Orpea übernahm 2015 den größten österreichischen privaten Heimbetreiber SeneCura