Wer trotz Arbeit unter der Armutsgrenze lebt, kann sich eine gute Ernährung schlicht nicht leisten. Auch wenn «fladern», das Klauen aus den Läden – ob aus Geldmangel oder als stiller Protest gegen die hohen Preise der Handelsketten –, illegal ist, für Georg ist es legitim.
Georg steht an der Kassa. Als er dran kommt, legt er seinen Einkauf auf das Fließband, der wird gescannt, er bezahlt. Freundlich verabschiedet er sich vom Kassierer und geht nach draußen. Was dieser nicht weiß: In Georgs Tasche befinden sich noch weitere Produkte, die er nicht auf das Band gelegt hat. Nicht aus Versehen, sondern ganz bewusst.
Das knappe Geld
Was Georg und viele seiner Freund:innen in Wien machen, nennen sie «fladern». Fladern, das Klauen aus den Läden, macht er schon seit mehreren Jahren. Mittlerweile gehört das zu seinem Wocheneinkauf dazu. Mal nimmt er ein paar der teureren Produkte mit, Bio-Marken, die er sich sonst nicht leisten kann. Mal nimmt er mehr mit, fast den gesamten Einkauf, nur die billigen Produkte scannt er alibimäßig an der Selbstbezahlkasse ein. Hauptgrund dafür ist das knappe Geld. Georg ist hier kein Einzelfall, viele junge Kolleg:innen von ihm machen es auch, erzählt er im Gespräch. Georg ist 30 Jahre alt und heißt in Wirklichkeit anders.
Seit der Covid-Pandemie kam es in Österreich zu enormen Preissteigerungen, mit dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 noch mehr. Viele bekommen das besonders stark beim Einkauf von Lebensmitteln zu spüren. 2022 stiegen die Preise für Nahrungsmittel um 10 und 2023 noch einmal um fast 11 Prozent. In diesen Jahren sind auch die Ladendiebstähle in Österreich stark angestiegen. Während laut Polizeilicher Anzeigestatistik 2021 noch gut 14.000 Fälle vermerkt wurden, waren es 2022 schon über 19.000 – ein Anstieg von 38 Prozent. 2023 lag die Zahl der Ladendiebstähle schon bei 25.000. Und das sind bloß die gemeldeten Fälle.
Armut vererbt
Aufgewachsen im deutschen Baden-Württemberg, war Georgs Familie zwar nie von akuter Armut betroffen, aber gleichzeitig geprägt davon, dass sie stets schauen musste, wie sie über die Runden kommt. Es war immer ein Zusammenkratzen von Geld und ein Hoffen, dass es bis zum Ende des Monats reicht. Kurz vor Georgs Geburt sind seine Eltern nach Deutschland gezogen. Dort mussten sie erst ihre Abschlüsse nachmachen – ein Abschluss in Recht und einer in Chemie wurden in Deutschland nicht anerkannt –, bevor sie wieder eine Möglichkeit hatten, in ihrem eigentlichen Berufsfeld zu arbeiten, was für ein geringes Einkommen und mentalen Stress sorgte. «Dass Geld knapp ist, zieht sich konstant durch meine Kindheit bis heute», sagt Georg dazu. Während es sein Vater irgendwann wieder zurück in den Beruf des Anwalts schaffte, erlitt seine Mutter nach zahlreichen Brotjobs ein Burnout, weswegen sie in Frührente gehen musste. «Und auch jegliche Supportstrukturen fehlten. Wir hatten keine Großeltern in der Nähe oder Ähnliches, auf die wir zurückfallen konnten, wenn es mal nicht so lief. Und auch kein Eigentum, bis heute nicht, kein Haus oder so was.»
In seiner Jugend kam er dann immer wieder in Kontakt mit der Hip-Hop-Szene, begann zu sprayen und auch damit, Dinge aus diversen Läden zu klauen. Es gehörte ein wenig Mut dazu und wurde unter Freund:innen als cool angesehen. Es war ein Auflehnen gegen das System, das gegen eine:n spielt, aber auch die Dummheit der Kindheit, das Ausprobieren, wo die Grenzen verlaufen. «Es war aber auch super, Dinge haben zu können, für die eigentlich das Geld fehlte, das und dieser rebellische Akt.»
Diese Zeit ist schon ein paar Jahre her, heute ist Georg nicht mehr in der Hip-Hop Szene verankert und lebt seit vielen Jahren in Wien. Fladern tut er immer noch, aber die Gründe haben sich verändert. Er arbeitet mittlerweile Vollzeit, dafür bekommt er aber bloß 1.300 Euro Nettolohn und lebt somit unter der Armutsgrenze, die in Österreich zur Zeit bei 1.572 Euro liegt. «Es geht darum, ein normales Leben führen zu können. Das Fladern, das macht am Ende des Monats einfach den Unterschied für mich aus.»
In den letzten Jahren spürte auch er die Inflation. «Das war dann die Zeit, wo ich gar nichts mehr für Lebensmittel ausgegeben habe.» Stattdessen ließ er vor dem Ausgang alles in seiner Tasche verschwinden und sparte sich so die monatlichen Ausgaben für Lebensmittel komplett ein. «Mir fiel da ganz besonders auf, wie unterschiedlich teuer die Produkte sind und wie gesunde Ernährung mit dem Geldbeutel zusammenhängt. Wenn ich da an einen Kanzler Nehammer denke, der meinte, man kann einfach Burger essen und die kosten ’nen Euro, das sind schon krasse Ungleichheiten.»
Erwischt wurde er dabei nie, nur in seiner Jugend einmal, beim Klauen von Spraydosen.
Profit erzielt
Gewissensbisse oder das Gefühl etwas Falsches zu machen habe er keine. «Da gibt es schon um einiges größere Probleme in der Welt, als dass jetzt ich oder andere Menschen am unteren Ende der Einkommensskala in großen Supermärkten etwas mitgehen lassen, um über die Runden zu kommen.» Zwar fladert er aufgrund von Geldmangel, aber auch die weltanschauliche Haltung fließe mit rein. Im Gespräch kritisiert er immer wieder das Wirtschaftssystem. «Also wenn ich mir unser ganzes Warensystem anschaue, mit den ganzen Preisen und dem Profit. Da läuft schon vieles sehr unfair ab.» Angefangen von der Lebensmittelherstellung, wo Arbeitskräfte billig ausgebeutet werden bis hin zu den hohen Gewinnen der Supermarktketten. «Es ist schon auch so eine kleine Anti-Haltung im Alltag. Und vielleicht auch ein wenig eine Art Resignation im Sinne von: Hey, es bleibt halt alles dabei, wie es ist.» Früher engagierte er sich aktivistisch in verschiedenen Gruppierungen, dafür fehlt ihm jetzt – mit einer Vollzeit-Anstellung – die Zeit.
Tatsächlich kommt der Profit den vier größten Supermarktketten in Österreich (Lidl, Rewe, Hofer, Spar) nicht zu kurz. Diese vier Unternehmen machen 91 Prozent des Lebensmittelmarktes aus. Ihre Gewinnmargen waren vom 2. Halbjahr 2022 und 2. Halbjahr 2023 zwar nicht systematisch höher als noch in den Jahren zuvor, wie ein Bericht der Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) aus dem Jahr 2023 zeigte. Auch wenn sie demnach nicht die großen Profiteure der Inflation zu sein scheinen, verzeichneten 2020 die Top fünf der österreichischen Lebensmittelunternehmen 400–500 Millionen Euro Gewinn, 2022 betrug er 200–300 Millionen Euro. Der Bericht stellte auch fest, dass diese Unternehmen einen beunruhigend starken Druck auf ihre Lieferanten ausübten.
Die Gründe für das Fladern bleiben bei Georg vielfältig: Ein stiller Protest gegen das System, aber vor allem Geldmangel bringen ihn dazu, Sachen mitgehen zu lassen. «Es ist bei mir ein Gefühl der Erleichterung, wenn ich montags einen Wocheneinkauf quasi gratis habe, dann atme ich schon auf, weil ich weiß, für diese Woche muss ich mir keine Gedanken mehr machen.» Es ist auch ein Stückchen Pause, das er sich damit holt.
Drei Fragen an:
Armutsexperte Martin Schenk
Wie sehr hat Armut in Österreich seit Corona und dem Ukraine-Krieg zugenommen?
Wäre Österreich ein Dorf mit 100 Einwohner:innen, lebten 15 in Einkommensarmut, 4 wären erheblich materiell und sozial depriviert. Seit 2022 ist die soziale Deprivation, also soziale Ausgrenzung, von 201.000 auf 336.000 betroffene Personen gestiegen. Kinder sind besonders stark betroffen.
Die Einkommensarmutsgrenze liegt in Österreich bei 1.572 Euro. Kann man davon leben?
Wohnen, Energie und Lebensmittel sind die drei Hauptposten in Haushalten mit wenig Geld, bei geringem Haushaltseinkommen nehmen sie bis zu 100 Prozent des Monatsbudgets ein. Dann bleibt nichts mehr für andere wichtige Bereiche wie etwa Gesundheit, Bildung oder Erholung übrig. Und Außergewöhnliches passieren darf nichts.
Gibt es Hilfseinrichtungen, die Personen beim Erhalt von Lebensmitteln unterstützen? Werden diese in den letzten Jahren mehr in Anspruch genommen?
Viele soziale Hilfseinrichtungen haben Lebensmittelausgaben oder Gutscheine für den Lebensmittelhandel, weiters gibt es Sozialmärkte für Produkte des täglichen Bedarfs. Die Nachfrage hat sich dafür erhöht, bei den Tafeln um 40 Prozent. So wichtig all das im Bedarfsfall ist, Ziel kann es nicht sein, dass möglichst viele in Armuts-Sondermärkten einkaufen gehen müssen.