Von der temporären Zweckentfremdung eines Stundenhotels
Am Sonntag, 6. Mai 2007, ist Österreichs berühmtestes Stundenhotel, das Orient am Tiefen Graben im Zentrum Wiens, Schauplatz der Langen Nacht der Liebe. Für eine Veranstaltung zum Internationalen Hurentag (2. Juni) habe er jedoch sein Hotel nicht zur Verfügung gestellt, erklärt Chef Schimanko junior dem Augustin. Grund: Das Puff-Image des Orient ist Geschichte und soll Geschichte bleiben.
Im Auftrag eines Lifestyle-Männer-Magazins stellte ein Meinungsforschungsinstitut folgende Frage an 1103 Frauen, die schon einmal fremdgegangen waren: Warum taten Sie dieses? 67 Prozent der Frauen erklärten, mit ihrem Sexleben unzufrieden zu sein. Den Sex mit ihrer Affäre halten 79 Prozent der Befragten für besser. Der größte Unterschied zur Hausmannskost: Beim Seitensprung erleben 58 Prozent leidenschaftlicheren Sex. Mehr als jede vierte Befragte schläft mit ihrem Partner überhaupt nicht mehr. Über die Hälfte der Fremdgängerinnen (53 Prozent) werden wenig oder gar nicht von ihrem Gewissen gequält.
Entschuldigen Sie das statistische Bombardement. Die Zahlen stehen für eine gesellschaftliche Entwicklung, die man als Banalisierung der diskreten Affäre bezeichnen könnte und diese wiederum bedingt die gesellschaftliche Bewertung von Institutionen der Pflege der diskreten Affäre. Als solches versteht sich das Stundenhotel Orient in der Wiener Innenstadt. Wenn man die Verdammung des Seitensprungs durch die orthodoxe katholische Lehre einmal ausklammert, ist das Orient dabei, einen weiteren Schritt abwärts in der Skala der Verruchtheit bzw. einen weiteren Ruck aufwärts zu den moralischen Standards zu tun. Der erste Schub hat etwas mit einer Entscheidung von Heinz Werner Schimanko, dem 2005 verstorbenen Orient-Besitzer zu tun, erklärt uns sein Sohn Heinz Rüdiger, der seit eineinhalb Jahren zusammen mit Orient-Faktotum Irina Holzschuh Europas sinnlichstes Stundenhotel managt: Ich will keine Mädchen mehr an der Bar sitzen haben, sagte mein Vater. Die Mädchen, das waren die Frauen aus Schimanko sen. Nachtklubs, die die Hotelgäste zum Trinken animierten und auch bereit zur käuflichen Liebe waren. Heute sei das Puff-Image des Hotel Orient längst Geschichte, sagt Heinz Rüdiger Schimanko.
Die Verflüchtigung des Sündigen aus dem Bild, das sich die Öffentlichkeit über das Orient macht, schmälert nicht den Mythosgehalt der altehrwürdigen Institution. Dieser ist in der Geschichte tief verankert. Bereits im 17. Jahrhundert wird das Orient als Schenke urkundlich erwähnt, wie man der Homepage www.hotelorient.at entnehmen kann. 1896 wurde das Hotel Orient offiziell eröffnet. Durch liebevolle Restaurierungsarbeiten wurde das Innere des Hotels (Makart-Stil) bis heute weitgehend im Original erhalten. Unser Haustechniker Dietmar, genialer Antiquitäten-Experte und Möbel-Restaurator, grast die Flohmärkte ab, um das Interieur stilgemäß zu komplettieren, sagt der junge Orient-Boss. Und wenn die Gäste im Europameisterschaftsjahr 2008 noch so heftig TV-Geräte in den Suiten urgieren: Die Räume der Liebe bleiben TV-freie Zonen, da fährt die Eisenbahn drüber. Denn es sei gerade diese einmalige Atmosphäre der Unveränderlichkeit, die Menschen aus der Kunst- und Filmbranche immer wieder hierher zog. Teile des Films „Der dritte Mann“ wurden hier gedreht. Heute werden die Suiten u.a. für Tatort-Folgen gebraucht. Nicht immer unterstützen die Filmemacher die Orient-Philosophie der Abgrenzung vom Rotlichtmilieu.
Der Buchautor und Singer-Songwriter Ernst Molden durfte in den 90ern ein Jahr lang im Orient wohnen und konnte hier seinen Roman Die Krokodilsdame schreiben. Vielleicht geben wir Molden einmal die Gelegenheit, in diesem Blatt seine Erinnerungen an das Orient auszubreiten, etwa an den Opa Artur, den jüdischen KZ-Überlebenden, den Schimanko sen. im Orient leben und herumgeistern ließ, oder an die nächtelangen Besäufnisse der Loge der generellen Zweckentfremdung, die Molden gemeinsam mit dem NZZ-Journalisten Christoph Braendle im Stundenhotel ins Leben rief.
Schnitzer der Prä-Schimanko-Junior-Ära wie der Softporno-Bildband Hotel Orient der Fotografin Sylvie Blum, die das Orient in ein Edelpuff zurück verwandelte, werden überstrahlt von der Bereitschaft der alten wie der neuen Hotelleitung, das Orient als Schauplatz aufregender Kunstaktionen zur Verfügung zu stellen. Für die Lange Nacht der Liebe am Sonntag, dem 6. Mai, ein Projekt des Aktionsradius Wien, wurden sogar das ganze Erdgeschoß und die Hälfte des ersten Stocks zur Verfügung gestellt. Die Gäste flanieren von Suite zu Suite, in denen Performances, Lesungen, Filme und Live-Konzerte für einen Pluralismus der Liebeskonzepte werben. Um nur einige Akteure zu nennen: Ernst Molden & Sibylle Kefer, A Life a Song a Cigarette, Tini Trampler & die Bordell Band, Das Halbe Quartett, 4she, Stefan Sterzinger, Doris Windhager, Skrepek & Bohatsch, Natascha Mirkovic, Kleo Ruiz…
Die perfekte Logistik des Flanierens, durch die es möglich wäre, das Programm-Chaos am besten zu bewältigen, wird niemand schaffen. Das passt aber perfekt zum Kult des Imperfekten, der laut Irina Holzschuh, die seit 26 Jahren im Orient als Bardame, Rezeptionistin und Seele des Hauses tätig ist, zum Flair des Orient beiträgt. Der große Tizian in der Orient-Bar hängt seit Menschengedenken schief, das Ölgemälde, das angeblich die Kaisermätresse Schratt darstellt, wurde von einem Stubenmädchen entwertet, das versucht hatte, das Bild mit Cif flüssig zu reinigen, und ein Wandbild in der so genannten Kaisersuite weist ein Einschussloch auf, über dessen Herkunft es widersprechende Anekdoten gibt. Die Version des Haustechnikers: ein fliegender Stöckelschuh, geschleudert von Udo Proksch.
Robert Sommer