Erinnerung an den transdanubischen Februaraufstand 1934
Schlingerhof, 1934: Georg Weissel, Feuerwehrkommandant, 35 Jahre alt, führt den Floridsdorfer Februaraufstand an. Wie die «rote Festung jenseits der Donau» heute erinnert wird, erfährt Barbara Eder bei einer Gedenktour – und ist durchaus nicht mit allem einverstanden.
Es ist kalt an diesem Sonntagnachmittag, und doch sind alle rechtzeitig vor Ort. Am 10. Februar versammeln sich rund dreißig Personen gegen vierzehn Uhr am Floridsdorfer Franz-Jonas-Platz. Sie sind einer Einladung der Überparteilichen Gedenkplattform Transdanubien gefolgt, die anlässlich der Februarkämpfe des Jahres 1934 einen historischen Spaziergang durch den Bezirk organisiert. Daran beteiligt – so legt es das Logo auf der transportablen Lautsprecherbox nahe – sind überproportional viele Grüne, aber auch die Bezirksgruppe der KPÖ Donaustadt hat die Veranstaltung in ihren sozialen Netzwerken publik gemacht: als Rundgang, der zu den wichtigsten Schauplätzen der Arbeiter_innenkämpfe führt, vom Floridsdorfer Arbeiter_innenheim über die Nordbahnstation zum Polizeikommissariat, vom Georg-Weissel-Denkmal zur Feuerwache, an der Straßenbahnremise vorbei, vor den Schlingerhof, ins Herz des bewaffneten Aufstands gegen die Milizen des austrofaschistischen Dollfuß-Regimes.
Eine rote Festung mit 76 Toten.
Nirgendwo wurde im Februar 1934 verlustreicher gekämpft als in Floridsdorf, die Opferbilanz von 76 Toten zählt zur höchsten innerhalb Wiens. Dieser Umstand lässt sich keineswegs nur auf die Kampfbereitschaft lokaler Größen zurückführen. Floridsdorf war einer der ersten Bezirke, der von den Errungenschaften des sozialen Wohnbaus profitieren konnte, auch aus diesem Grund galt er als rote Festung jenseits der Donau. Zu den dazugehörigen Monumenten vor Ort zählt neben dem Paul-Speiser- und dem Franz-Bretschneider-Hof auch der Schlingerhof. Im Vergleich zu militanten Burgen wie dem Karl-Marx-Hof und der Wohnhausanlage am Friedrich-Engels-Platz wirkt dieser mit seinen runden Bögen und dem mit Kupferblech überzogenen Uhrturm nahezu niedlich. Hinter den ornamental verzierten Eingangsbereichen verbergen sich jedoch um die 470 Wohnungen, die bei der Bevölkerung den Ruf von «sichtbaren Hochburgen eines Sozialismus ohne Blut und Tränen» genossen. Bei Jungarbeiter_innen war ein Platz in den Bauten besonders begehrt: So manches Paar, das unter der räumlichen Enge eines Mehrgenerationenhaushalts litt, konnte im Schlingerhof eine eigene Existenz aufbauen.
Feuerwehr gegen Faschismus.
Von den politischen Ursachen einer bereits gegen Ende der Zwanzigerjahre aufkommenden Angst vor dem Verlust des bisher Erkämpften war beim Spazieren durch historisch stark besetztes Gelände nur bedingt die Rede. Vor der daran anschließenden Diskussion, die im Veranstaltungsraum der Gebietsbetreuung stattfand, führte der Historiker Kurt Bauer durch den Gedenk-Parcours, beginnend mit dem Denkmal zu Ehren des Anführers der Student_innenabteilung des Republikanischen Schutzbunds und späteren Schutzbundkommandanten Georg Weissel, der als Floridsdorfer Feuerwehrhauptmann aus einer strategisch günstigen Position den Februaraufstand koordinierte. Weiteren Opfern des Faschismus wurde am Eingang der Straßenbahnremise in der Gerichtsstraße gedacht. Diesmal stammen sie aus dem Jahr 1942, unter den vier Namen auf einer Gedenktafel der Wiener Verkehrsbetriebe findet sich auch eine Frau, die Straßenbahnerin Antonia Stockinger. Mit einer anderen Tafel, die während der Renovierungsarbeiten vom Eingangsportal an die Fassade des Naturfreunde-Hauses am anderen Ende des Schlingerhofes wanderte, wird zu guter Letzt auch an die Verdienste der Floridsdorfer Arbeiter_innenschaft erinnert. «Den Kämpfern für Freiheit und Demokratie», ist dort zu lesen, «Ihr Vermächtnis – Kampf dem Faschismus!».
Gewalt und Gegengewalt.
Die Vor-Ort-Kommentare von Kurt Bauer fielen betont prosaisch aus. Die Ergebnisse seines unlängst bei Böhlau erschienenen Buches Der Februar-Aufstand 1934 – Mythen und Fakten wurden in Kurzform bereits am Vortag in der Wiener Zeitung publiziert. Wo und zu welcher Uhrzeit welche Waffe wen tötete, konnte er auch vor Ort präzise rekonstruieren; dass es sich bei den von Bauer zitierten Quellen zumeist um Berichte des ehemaligen Stadthauptmanns Petri handelte, der es im Dollfuß-Regime zum hochrangigen Polizeibeamten gebracht hatte, wurde nur in einem Nebensatz erwähnt. Man kann es durchaus als Aufgabe eine_r Historiker_in verstehen, von einer vermeintlichen Position idealer Neutralität auf Vergangenes zu blicken. Bauer, der bei seinen Recherchen vornehmlich auf die Ausführungen von Experten für innere Sicherheit vertraute, beendete seinen Geschichts-Rundgang im Polizeijargon. Petri erneut zitierend, erklärte er dem Publikum, dass Floridsdorf nach den besagten zehn Tagen im Februar ’34 «wieder in den kargen Lebensraum von größtenteils arbeitslosen Arbeitern und Landhaussiedlern, stillstehenden Fabriken und verarmten Gewerbetreibenden» verwandelt worden sei.
Jede Geschichtsdarstellung – sei es in fiktionaler oder non-fiktionaler Form – setzt die Fähigkeit voraus, eine Differenz zu setzen. Erst dann wird nachvollziehbar, was sich aus wessen Perspektive für wen wie darstellt. Als Grund für die Radikalisierung der Floridsdorfer Arbeiter_innenschaft nennt Bauer jedoch nicht die seit dem Justizpalastbrand von 1927 zunehmende politische Repression, die im 1933 erlassenen Verbot von Schutzbund und KPÖ kulminierte, sondern lediglich die hohe Erwerbslosenquote im Wien der Zwischenkriegszeit. Der Frage nach der Legitimität von Gewalt in einer Gesellschaft, die mit struktureller Gewalt ihre Ordnung aufrechterhält, entgegnete er mit Verweis auf Karl Kautskys Kritik der Gewalt, der darin am Februaraufstand den klandestinen Rückschlag einer bewaffneten Gruppe kritisiert, die ohne Autorisierung durch die Parteiführung handelt. Auch aus diesem Grund wurde seine Niederschlagung für die Reaktion zum Kinderspiel. Danach gefragt, ob eine Massenbeteiligung am Februaraufstand den Faschismus in Österreich langfristig verhindern hätte können, antwortete Bauer, dass die von den Schutzbündler_innen favorisierte Herrschaftsform ohnehin die der «Diktatur des Proletariats» gewesen wäre; der Gedanke, dass die fundamentale Veränderung jener Produktionsverhältnisse, die mit der Errichtung einer solchen einhergeht, auch ein Zwischenschritt im Übergang zu einer egalitären Gesellschaftsform sein kann, war insbesondere den Älteren im Publikum nicht halb so fremd wie dem Vortragenden.
Wie Floridsdorf in den Kaukasus kam.
Nur vom Horizont der Gegenwart aus lässt sich rekonstruieren, was in der Vergangenheit passiert ist. Die Mehrheits- und Minderheitenverhältnisse im Jetzt bestimmen hingegen, ob über das, was gewesen ist, überhaupt noch nachgedacht werden kann. Die Positionen des Floridsdorfer Schutzbundkommandanten Georg Weissel und des Austromarxisten Otto Bauer scheinen heute wie durch Welten getrennt. Die Parole «Lieber tot als Sklav» stammt angeblich von letzterem, während ersterer dazu bereit war, die aus ihr folgenden Konsequenzen zu ziehen. Georg Weissel kämpfte für die gute Sache und wurde noch am Morgen des 15. Februar 1934 35-jährig hingerichtet. Otto Bauer, der von den Plänen des Schutzbundes wusste, aber zu spät handelte, ging in die Emigration nach Brünn.
Ein anderer Kommunist, der nach der Machtergreifung der Nazis aus Deutschland flüchten musste, schloss sich auf der Durchreise den kämpfenden Wiener Arbeiter_innen an, bevor er 1935 in Moskau ankam. Noch im selben Jahr wurde sein Theaterstück mit dem Titel Floridsdorf im dortigen Ernst-Thälmann-Klub von den österreichischen Schützbündler_innen im Exil aufgeführt. In Kislowodsk, einer Stadt im Nordkaukasus, befindet sich noch heute ein Denkmal für die antifaschistischen Kämpfer_innen, das hierzulande seinesgleichen sucht.
An Otto Bauer erinnert eine Seitengasse im sechsten Bezirk, nach Georg Weissel hingegen wurde eine Gasse in Floridsdorf benannt. Dort, wo sie die Brünner Straße kreuzt, befindet sich eine Niederlassung der Städtischen Büchereien, in der ein ganz bestimmtes Buch noch fehlt. Es trägt den Titel Dramen und ist Teil einer 1960 im Berliner Aufbau-Verlag erschienenen, sechzehnbändigen Gesamtausgabe der Werke Friedrich Wolfs. Das erste Stück darin heißt Floridsdorf und ist nicht für die Vergangenheit geschrieben. Es endet mit der Szene Wie die Frauen weiterkämpfen. Darin reinigen die Schutzbündlerinnen Gretl und Mali nach Beendigung des Kampfes im Schlingerhof ihre Gewehre mit Speiseöl, um sie anschließend einzulagern: «Wie lange glaubst du, Gretl … daß die da liegen müssen?» Schlingerhof, 1934: Georg Weissel, Feuerwehrkommandant, 35 Jahre alt, führt den Floridsdorfer Februaraufstand an. Wie die «rote Festung jenseits der Donau» heute erinnert wird, erfährt Barbara Eder bei einer Gedenktour – und ist durchaus nicht mit allem einverstanden.